Wer wir sind
Birobidschan. Und hat nicht der Diktator der Dominikanischen Republik angeboten, bis zu hunderttausend Juden aufzunehmen? Er hat ja jetzt Platz. Er hat gerade erst achtundzwanzigtausend haitianische Arbeiter massakrieren lassen.
Keiner will sie!
So hat der ›Völkische Beobachter‹ beglückt getitelt.
Ist es denn ein Wunder, dass Deutschland sich eines Bevölkerungssegments zu entledigen trachtet, das auch in den anderen Ländern niemand aufzunehmen bereit ist?
»Wie stellst du dir vor, dass wir ins Ausland gehen, ohne Geld, ohne Fremdsprachenkenntnisse?«
Das sagt Onkel Richard.
»Meinen Brüdern ist es nicht geglückt. Und ich bin auch noch blind. Nein. Wir sind Deutsche, und wir bleiben hier. Das alles kann ja nicht ewig dauern. Das Land von Goethe und Schiller wird diese Barbarei nicht dulden. Das Land von Martin Luther.«
Und das ist ein weiteres Problem. Die USA wären bereit gewesen, Elisabeths Frankfurter Onkel Paul mit seiner Familie aufzunehmen. Der Onkel hätte nur die Reise bezahlen und den Besitz von 400 Dollar nachweisen müssen. Dollars sind aber kaum zu beschaffen. Ihr Besitz ist strafbar. Ein Amerikaner hätte also die Summe vorstrecken müssen. Aber das Komitee der amerikanischen Juden setzt sich nur für Glaubensjuden ein.
Getauft! Natürlich sind wir alle getauft. Alle zwölf Hohenemser-Kinder, christlich getauft, konfirmiert, kirchlich getraut, und wenn wir mal sterben, werden wir christlich beerdigt.
Nicht nur in Amerika, überall nehmen sich die jüdischen Hilfsorganisationen nur der Juden an, die dem alten Glauben treu geblieben sind. Deswegen kümmert sich Bischof Bell besonders um jüdischstämmige Christen. Dietrich Bonhoeffers Freund und Vertrauter aus Dietrichs Jahren als Auslandspfarrer in England hat den Vorsitz des International Christian Committee for German Refugees übernommen. Die Engländer verlangen für die Erteilung eines Visums die Vorlage einer Bürgschaft. Bischof Bell hat in diesem Winter 1938/39 bereits persönlich für neunzig Menschen gebürgt, vor allem für Mitglieder nichtarischer Pfarrersfamilien. Bells Schwägerin Laura Livingstone hält sich in Deutschland auf, um Juden bei der Auswanderung zu helfen: Sie arbeitet mit dem Büro Pfarrer Grüber zusammen, mit den Quäkern der Religiösen Gesellschaft der Freunde.
George Bell bemüht sich als Lordbischof und Mitglied des Oberhauses seit Langem darum, den Engländern klarzumachen, wie schwierig das Leben für Gegner des Nationalsozialismus in Deutschland ist, wie furchtbar die Feinde des Regimes bedrückt werden.
Aber die Engländer verstehen es natürlich nicht. Wie sollten sie? Sie leben in einem freien Land. Bell versucht, den Bischöfen der Church of England die Barmer Theologische Erklärung zu erläutern, das Gründungsmanifest der Bekennenden Kirche. Aber die Bischöfe zucken die Achseln. Sie begreifen nicht, wie man zwischen rechtmäßiger und nicht rechtmäßiger Berufung auf Jesus Christus unterscheiden kann.
Natürlich kümmert sich George Bell auch ganz besonders um die Zwillingsschwester seines Freundes Dietrich Bonhoeffer und ihren Mann Gert, die nach England geflohen sind. Er hat sie als seine Gäste eingeladen, so dass das Jahr 1939 für Sabine und Gert Leibholz luxuriös in einem mit Stoffen ausgeschlagenenSchlafzimmer im Bischofspalast von Chichester beginnt.
Das Mädchen hat die Vorhänge geöffnet und ihnen eine Tasse Tee am Bett serviert. Dann hat es die hübsche bunte Blechdose neben dem Bett geöffnet, um ihnen die Frühstückskekse anzubieten, die sich darin befinden müssten. Die Dose war aber leer.
Die Kekse sind weg. Die Leibholzens haben sie gestern Abend gegessen, und nun fällt ihnen nicht einmal ein Scherz ein, den sie dem mit der Dose enteilenden Mädchen nachrufen könnten: Ihr Englisch ist noch immer sehr hölzern. Das Schlimme ist nicht der Keks. Das Schlimme ist der Verlust der Grazie. Sabine fühlt sich wie jemand mit zwei linken Füßen. Mit zwei linken Daumen. Sie fühlt sich wie auf einer Eisfläche: Sie läuft bei jedem Schritt Gefahr, auszurutschen oder einzubrechen. Sabine sollte wirklich lachen, über die beiden Kekse. Und natürlich hat sie auch gelacht, über den verblüfften Blick des Mädchens. Das liebe, unschuldige Ding, so erstaunt, dass es Leute gibt, die sich nicht an die vernünftigen und kultivierten Regeln zivilisierten Zusammenlebens halten! Es ist aber nicht lustig.
Nichts ist lustig. Sie sitzen beim Dinner, diese wohlerzogenen Engländer, sie
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