Wer wir sind
auf, räumt das Brot in den Kasten. Sie nimmt die Teetasse und legt die Tablettenan den Rand des Untertellers. Hildes Lippen sind noch immer wund.
Es ist die letzte Spur. Das letzte Zeichen der letzten gemeinsamen Nacht, die vergangen ist, wie Tausende solcher Nächte für Tausende von Liebenden vergangen sind. Einmal noch sind die Brecher an dem Damm aufgeschäumt, der Vergangenheit und Zukunft trennte. Dann kam der Morgen. Franz brach auf. Er war ruhig.
Am Ende war er ruhig. Am Ende hat es kaum noch für einen Kuss gelangt. Hilde nimmt das Tablett. Sie geht zurück ins Zimmer, zur Mutter. Sie weiß noch nicht recht, wie sie gehen soll. Sie weiß nicht recht, wie man leben soll, seitdem die Welt sich am Hausvogteiplatz gewandelt hat. Vielleicht muss man sehr, sehr sanft zu allem sein. Vielleicht muss man wie ein Schlafwandler gehen, die Füße so auf den Boden setzen, dass sie ihn fast nicht berühren. Jeder neue Tag ist eine neue Schneewüste.
Die Wüste sieht jeden Tag gleich aus. Hilde hinterlässt vielleicht eine Spur. Sie sieht aber keine Spur. Jeden Tag geht sie wieder los, allein, durch die schneestiebende weiße Dunkelheit. Und wenn sie sich umwendet, liegt hinter ihr alles wie unberührt, als wäre dort niemals jemand gegangen.
»Hier, Mama, deine Tabletten. Vorsicht mit dem Tee.«
»Danke, Kind. Und dann mein Rücken. Ich habe es wieder so sehr im Rücken, schon seit heute Morgen. Würdest du mir ein wenig den Rücken massieren, Kind.«
»Aber gern, Mama. Ist es so besser? Das ist gut. Dann decke ich jetzt den Tisch, zum Abendessen.«
Und dann kommt Hans Coppi. 1939 hat Hilde Hans Coppi wiedergetroffen: Sie kennen einander von früher, aus einer Gruppe von Jungkommunisten. 1933 war Hans sechzehn. Erbesuchte das Lessing-Gymnasium in Tegel, wo er sich nach den Scharfenberger Jahren freilich überhaupt nicht zurechtfand. Er blieb auch nicht lange. Er hat Flugblätter verteilt, und die Gestapo hat ihn in Haft genommen. Im KZ Sachsenhausen bei Oranienburg hat man ihn aufbewahrt, bis er achtzehn war und man ihm den Prozess machen konnte, und dann hat man ihm ein Jahr Jugendstrafe in Plötzensee aufgebrummt.
Hans Coppi schüttelt den Kopf.
»Plötzensee. Schlimm genug. Aber Oranienburg. Ich frage mich, was sie erreichen wollen, wenn sie einen dort einsperren. Glauben sie, dass man ihr System freundlicher beurteilt, wenn man ihre Lager von innen kennt? Glauben sie, dass man danach nicht mehr gegen sie kämpft?«
»Sie wollen einem wohl Angst machen«, sagt Hilde. »Sie wollen, dass man nichts so fürchtet wie die Rückkehr ins Lager.«
Hans lacht auf. Er legt den Arm um Hilde, die sich an ihn lehnt, Hilde setzt die Füße immer noch sehr vorsichtig. Hans tritt entschieden auf. Er ist sieben Jahre jünger als Hilde, aber so fühlt es sich nicht an.
»Man muss kämpfen«, sagt er. »Mit allen Kräften muss man gegen sie kämpfen, das sage ich dir.«
Hans hat natürlich recht. Hilde weiß das. Sie hat bisher gegen gar nichts gekämpft. Vielleicht hat sich einfach noch keine Gelegenheit ergeben. Franz Karma hat keinen Wert darauf gelegt, dass Hilde um ihn kämpft oder an seiner Seite kämpft. Vielleicht ist es diesmal anders. Vielleicht wird diesmal etwas von Hilde verlangt. Vielleicht genügt es dann, dass Hans mutig ist. Wenn Hans mutig ist, reicht das vielleicht für sie beide.
Lotte Schleif sitzt in ihrer kleinen Wohnung am Küchentisch. Hans Coppi ist gerade gekommen, der Sohn ihrer alten Freundin.Er hat zwei Freunde mitgebracht, Heinrich Scheel und Hans Lautenschläger.
Sie sind alle drei Scharfenberger. Die Scharfenberger halten zusammen. Sie haben ihre eigene Sprache, einen eigenen Umgangston, gemeinsame Erinnerungen, wie die Mitglieder einer Familie. Heinrich Scheel und Hans Lautenschläger treffen sich auch weiterhin mit ihrem alten Lehrer Scheibner, den alle auf der Insel Rat nannten.
In Rats Wohnung am Hackeschen Markt tagt regelmäßig ein Lern- und Diskutierzirkel, in dem manchmal auch Flugblätter hergestellt werden und wo sie einander nun fragen müssen, ob sie die ganze Zeit auf dem falschen Weg gewesen, die ganzen Jahre zu falschen Göttern gebetet haben: Es ist der 25. August 1939, und Stalin hat gemeinsam mit Hitler einen Nichtangriffspakt unterzeichnet.
Die Sowjetunion paktiert mit den Nazis. Russland lässt die deutschen Arbeiter im Stich und macht mit dem Todfeind gemeinsame Sache. Hans Coppi sieht ganz eingefallen aus.
»Und was ist mit den Toten?«
»Was ist mit den
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