Wer wir sind
Traditionen.
»Und schuld daran ist Direktor Blume!«
Der Direktor ist nicht da, sonst wäre dieser Tumult gar nicht möglich.
»Zu Zeiten der echten Selbstverwaltung wäre eine solche Regelverletzung gar nicht möglich gewesen. Schuld ist Direktor Blume selbst, er verstümmelt die Schule. Er verzichtet freiwillig auf unsere alten Prinzipien.«
»Was soll Blume denn machen? Er hat doch nur Angst, dass die Schule geschlossen wird, falls die Nazis drankommen.«
»Sie wird nicht geschlossen. Es wird nur ein anderer Geist einziehen.«
Schulz. Sein Vater ist Nazi.
»Schulz! Wenn dir der Geist hier nicht passt, warum bist du nicht woanders hingegangen?«
»Wer hat Schulz überhaupt gewählt? Warum hat der das Stimmrecht bekommen?«
»Von wegen Stimmrecht. Hier wird ein Geist der Disziplin einziehen!«
»Schließen wir die Disziplinverletzer aus der Inselgemeinschaft aus!«
Das schreit Schulz. Nun springen die Ersten auf. Der Tumult ist perfekt. Der kleine Böker zieht Schulz am Ärmel: der kurzsichtige Rechtsanwaltssohn Böker, Gefolgschaftsführer der Hitlerjugend, über den sich die anderen ständig lustig machen.
»Das kannst du doch nicht verlangen, Schulz«, sagt er. »Das sind doch auch Volksgenossen. Das sind doch unsere Mitschüler. Du kannst doch nicht wollen, dass man sie ausschließt.«
»Ausschluss!« Schulz schüttelt den Ärmel, den Böker festhält. Er beachtet Böker gar nicht. Wer beachtet Böker? »Ich bin für den Ausschluss!«
Hans Coppi erhebt sich.
»Dann schließt mich auch aus. Ich solidarisiere mich mit den Jungen, die mit mir und auf meinen Vorschlag hin in den Film gegangen sind.«
»Hans!« Heinrich Scheel hat den Arm des Freundes ergriffen. »Hör auf. Überlege dir, was du sagst. Du hattest doch eine Genehmigung.«
»Ich solidarisiere mich. Diese Diskussion ist eine Scheindiskussion. In Wirklichkeit geht es nicht um Genehmigungen, sondern um den Film. Der Film ist antinationalistisch. Der Besuch des Films soll bestraft werden.«
Ein paar jüngere Schüler haben Hans Coppi aufs Festland begleitet, um mit ihm zusammen Pabsts Film ›Kameradschaft‹mit Ernst Busch zu sehen, von dem Coppi ihnen vorgeschwärmt hat. Die Jungen hatten keine Erlaubnis, die Insel zu verlassen. Das ist alles. Früher hätte die Schulgemeinschaft die Sanktion für eine solche Sache besprochen. Wahrscheinlich hätte man die Schüler für eine Weile von ihren Pflichten entbunden: Wer sich nicht an seine eigenen Regeln hält, dem kann man keine Verantwortung übertragen.
»Blume wird die Ausschlüsse sicher wieder rückgängig machen.«
Draußen vor der ehemaligen Scheune hat der Kunstlehrer Erich Scheibner, Rat genannt, Hans Coppi eingeholt. Rat ist beliebt. Er ist zuständig für die Dinge, die den Schülern wirklich wichtig sind: für die Theateraufführungen, Zeichenwettbewerbe, Marionettenspiele, Studienfahrten. Er und Hans Coppi haben denselben Weg. Rat hat ein Arbeitszimmer im Fährhaus, wo die Jungen sich Döblin, Remarque, Brecht, Tucholsky ausleihen können, Bände und Zeitschriften über Barlach, Dix, Pechstein, Grosz. Aber er schläft genau wie Hans Coppi, Hans Lautenschläger und die anderen im großen Jungenschlafsaal im Neubau.
»Coppi, Sie hatten eine Genehmigung. Sie müssen die Schule nicht verlassen. Denken Sie nur, wie enttäuscht Ihr Vater sein wird. Sie müssen mit Blume sprechen, wenn er wieder da ist.«
Hans Coppi sieht zu Rat hinunter, den er um mehrere Haupteslängen überragt.
»Mein Vater wird mich verstehen«, sagt er. »Er wird mein Verhalten gutheißen. Und ehrlich gesagt, ich habe gar nichts dagegen, hier wegzugehen. Ich gehe aufs Festland. Ich will nicht länger hier herumsitzen. Ich will gegen die Nazis kämpfen. Mein Vater wird auf meiner Seite sein. Er ist Arbeiter, und er wollte ein besseres Leben für mich.«
»Dann machen Sie Abitur!«
»Das kann ich auch auf dem Festland.«
Hans Coppi geht. 1934 wird auch der Lehrer Rat die Schule verlassen. Heinrich Scheel wird Direktor Blume ans Humboldt-Gymnasium begleiten, zusamen mit mehr als der Hälfte der Schülerschaft. Scharfenberg gibt es nun nicht mehr. Stattdessen gibt es nun die Rudolf-Heß-Schule, eine nationalsozialistische Musteranstalt, an der das Führerprinzip herrscht.
Hilde Rake kennt Scharfenberg gar nicht. Sie weiß nicht einmal, dass es auf der Insel Scharfenberg diese Schule gibt. Es ist ein kühler Frühlingstag 1939. Hilde wohnt in Berlin Mitte, über dem kleinen Laden für Lederwaren, den die
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