Wer wir sind
Mutter betreibt. Sie wohnt noch immer dort, mit ihren fast dreißig Jahren. Sie hat auch dort gewohnt, als Franz noch in Berlin war. Franz und Hilde durften ja nicht heiraten. Sie konnten nicht zusammenziehen. Sie konnten nicht in einer gemeinsamen Wohnung wohnen, in einem steinernen Raum mit vier steinernen Wänden. Aber sie haben auf ihrer Insel gelebt.
Eine Weile haben sie auf ihrer eigenen Insel gelebt, die freilich den Stürmen immer weniger Widerstand entgegenzusetzen hatte. Das Meer biss erst kleine, dann riesige Stücke aus ihr heraus. Die Überfahrt wurde immer gefährlicher. Die Pfade, die in ihr Zentrum führten, wurden halsbrecherisch, dann gänzlich unwegsam, zuletzt war auch das Zentrum zerstört: das pulsierende Zentrum, in dem Franz und Hilde still waren, geborgen beieinander. Nun ist Franz fort.
Er hat Hilde verlassen. Hilde Rake und Franz Karma werden einander niemals wiedersehen, und Hilde hat nicht einmal den Trost der Wut, der gerechten Empörung. Franz hat sie ja ihr zuliebe verlassen.
»Ach Hilde. Von mir selbst einmal ganz abgesehen. Aber was hast du denn für ein Leben mit mir? Du kannst dich öffentlich nicht mit mir zeigen. Wir können nicht ins Kino gehen, nicht ins Theater. Warte, bis sie mich aus der Wohnung werfen. Dann kannst du mich im Judenhaus besuchen, und am Ende sperren sie dich dafür ein. Es geht nicht mehr. Ich bin eine Gefahr für dich.«
Aber es war natürlich umgekehrt. Hilde war eine Gefahr für Franz. Ihm hätten sie Rassenschande vorgeworfen, dem jüdischen Mann. Hilde wird niemals den Moment vergessen, als ihr endgültig klarwurde, dass Franz fortmusste.
Es war am Morgen nach den Novemberpogromen 1938. Franz und Hilde befanden sich in Sicherheit, bei arischen Freunden. Sie standen am Fenster hinter dem Vorhang und sahen hinaus auf den Hausvogteiplatz. Vor einem Kurzwarenladen lag die ganze Straße voll Knöpfe: Glasknöpfe, Holzknöpfe, Lederknöpfe, Hirschhornknöpfe, schillernde Perlmutterknöpfe und blitzende Messingknöpfe, gold- und silberfarbene Knöpfe, Knöpfe festlich bunt wie gestreute Blüten. Ein alter Mann kauerte auf dem Boden. Er sammelte seine Knöpfe in einen Eimer. Ein SS-Mann trat an ihn heran. Hilde Rake schwindelte es.
Es schwindelte ihr vor der Fülle der Handlungsmöglichkeiten, die dieser SS-Mann nun besaß, vor der schieren Menge begehbarer Wege, die sich jetzt, in diesem Moment, vor ihm auffächerten und von denen er gleich einen wählen würde. Und diese Wahl wäre in Ewigkeit unumkehrbar. Niemals würde er sich umwenden, zurückgehen und eine andere Abzweigung wählen können. Der SS-Mann hob den gefüllten Eimer auf, wog ihn in der Hand. Die Welt stand still. Dann kippte der SS-Mann die Knöpfe auf die Straße zurück, in weitem Bogen, in einer Geste großer, heller Lässigkeit. Der alte Mann hobden Kopf nicht. Der SS-Mann stellte den Eimer wieder hin. Er dachte einen Moment lang nach. Dann beugte er sich über den Alten und spuckte ihn an. Der Speichel traf die Schläfe, rann die Wange herunter.
»Du musst fort«, sagte Hilde. »Nun musst du fort.«
Franz ist fort.
Die Insel ist versunken. Hilde ist einkaufen gewesen. Nun ist sie vom Einkaufen zurück. Die Mutter sitzt auf dem Sofa. Halb sitzt sie, halb liegt sie, wie immer, wenn ihr Herz Sachen macht. Hilde stellt die Einkaufstasche ab. Die Mutter sieht mit schwimmenden Augen zu Hilde auf.
»Das Herz«, sagt die Mutter. »Mein Herz macht wieder Sachen, schon seit heute Morgen.«
»Hast du deine Tabletten genommen?«, sagt Hilde. »Ich glaube fast, du hast sie heute Morgen vergessen. Soll ich dir einen Kamillentee machen?«
Die Mutter antwortet nicht. Hilde hofft, dass sie nicht quengelt. Die Mutter neigt manchmal dazu, zu quengeln, wenn man etwas von ihr verlangt: dass sie ihre Tabletten nimmt, dass sie ihren Tee trinkt, dass sie tapfer ist, bis Erwin zurückkommt, Erwin hat beruflich verreisen müssen. Die Mutter mag das nicht. Sie kann nicht allein sein. Sie wird unsicher, sie ängstigt sich. Man kann ihr keinen Vorwurf machen. Wenn die Mutter stärker sein könnte, wäre sie es. Wenn sie es besser machen könnte, würde sie es besser machen. Die Mutter ist schwach. Aber ihr Erwin wird zurückkehren. Franz ist fort.
»Ich koche dir einen Tee«, sagt Hilde zur Mutter. »Ich hole dir deine Tabletten, bleib liegen.«
Sie nimmt die Einkaufstasche, trägt sie in die Küche. Sie hat Brot gekauft, Milch, einen kleinen Blumenstrauß. Hilde geht in der Küche umher, setzt Wasser
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