Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
Vom Netzwerk:
Ermordeten?«
    »Jeder Gefängniswärter kann nun in die Zellen hineingrinsen und sagen, da habt ihr es, Stalin lässt euch im Stich, die Russen gehen mit dem Führer.«
    »Eine Kapelle der Roten Armee soll das ›Horst-Wessel-Lied‹ gespielt haben, bei Ribbentrops Ankunft in Moskau.«
    »Wie sie über uns lachen müssen!«
    »Sind wir denn ganz allein?«
    »Sind wir seine einzigen Feinde?«
    Sie schweigen. Es gibt nichts mehr zu sagen. Sie sitzen nahe beieinander. Dies ist Lottes Wohnung. Aber so fühlt es sich nicht an. Es fühlt sich an, als wären sie auf einem Ozeandampfer. Draußen tobt der Sturm. Sie allein sind übrig. Sieleben noch. Alles andere ist untergegangen. Und dringt nicht schon Wasser unter der Tür herein? Welches Werg soll dieses Leck stopfen?
    Aber vielleicht weiß Kurt Schumacher Rat. Kurt Schumacher hat schon einmal Rat gewusst, nach der Flucht Rudolf Bergtels, der als Kommunist wegen Hochverrats zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Es ist Rudolf aber gelungen, aus dem Straflager Aschendorfer Moor zu entkommen. Er hat sich zu Lotte Schleif durchgeschlagen, nach Berlin Wilmersdorf, in die Kaiserallee 172. Lotte spielt sich den Moment immer wieder vor, wie einen Lieblingsfilm.
    Es klingelte. Lotte öffnete. Der Mann vor ihrer Tür duckte sich unter seinen Hut, hüllte sich in die Dämmerung dieses Sommerabends, der zu warm war für seinen Schal, für den hochgeklappten Kragen seines Mantels. Woher hatte er den Hut, woher den Mantel? Lotte packte seinen Arm, zog ihn in die Wohnung. Sie schloss die Tür hinter ihm, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür.
    »Da bist du. Da bist du.«
    Sie umarmten einander, berauscht von seiner Flucht, seiner Rückkehr ins Leben. Er würde aber nicht bleiben können: nicht in Lottes Wohnung, nicht in diesem ganz gewöhnlichen Berliner Mietshaus. Lotte hat Ilse um Rat gebeten.
    Die Bildhauerin Ilse Schaeffer: Auch ihr Mann ist wegen kommunistischer Umtriebe inhaftiert. Ilse wiederum hat sich an den Genossen Kurt Schumacher gewandt, und der hat Rudolf Bergtel sofort in seiner Laube im Kleingarten in der Papestraße verborgen.
    Der Garten ist nicht einsehbar. Er ist der letzte in der Reihe. Dahinter beginnt die Wildnis, die bis zu den Bahnschienen reicht. Aber länger als ein paar Tage konnte Rudolf Bergtel natürlichauch hier nicht bleiben. Also hat Kurt vorgeschlagen, ihn in die Schweiz zu bringen. Sie haben alle zusammengelegt. Sie haben Decken besorgt, Proviant, Bahnfahrkarten. Lotte hat einen Zehn-Dollar-Schein in Rudolfs Schuh eingenäht. Dann hat Harro Rudolf Bergtel zum Anhalter Bahnhof begleitet.
    Der Fliegeroffizier Harro Schulze-Boysen: In Uniform ist er an Bergtels Seite gegangen, vorüber an den Steckbriefen mit Bergtels Gesicht, beschwingt von der Arroganz seines Muts, getragen vom Hochgefühl der Tat, nach all dem Gerede und Herumgesitze der letzten Wochen, Monate und Jahre. Er hätte sich gewünscht, jede Woche so einen Gang zu tun.
    Er hätte singen können.
    Er hat womöglich gesungen oder jedenfalls leise durch die Zähne gepfiffen. Bergtel hat verbissen geschwiegen. Der hochgestimmte Mann an seiner Seite war ihm nicht geheuer. Der Kerl hatte die Aura des Klassenfeinds, ihm fehlte jeglicher kommunistische Stallgeruch. Und woher zum Teufel nahm er die gute Laune?
    Am Bahnsteig ist Bergtel in den Zug nach Bregenz eingestiegen.
    Ein paar Abteile weiter hinten saß Kurt, in voller Bergsteigerausrüstung. Harro hat auf dem Bahnsteig gewartet, bis der Zug angefahren ist. Erst ist Rudolf Bergtel an ihm vorbeigerollt, ein paar Momente später Kurt. Sie haben einen langen leuchtenden Blick gewechselt. Dann rollte der Zug aus der Bahnhofshalle. Harro sah ihm nach. Das war nun also schon wieder vorbei. Er ging nach Hause und schickte Libs zu Elisabeth, um sie wissen zu lassen, dass Kurt gut aus Berlin weggekommen war. Aber damit ist die Gefahr natürlich längst nicht überstanden.Elisabeth steht im Garten an der Papestraße. Sie sammelt die Läuse von einer Rose ab. Sie ist ruhig. Wann ist die Gefahr überstanden? Wenn man tot ist. Es ist also zwecklos, sich zu fürchten. Man lähmt sich nur selbst. Man lähmt den anderen. Nichts ist einschränkender für einen Menschen, als in steter Sorge sein zu müssen wegen der Sorgen, die er anderen bereitet. Im Grunde müsste man an jedem gewöhnlichen Alltagsmorgen mit Todesangst erwachen: Solange man lebt, kann man sicher sein, den Tod noch vor sich zu haben. Elisabeth hat den Salat gegossen. Sie hat

Weitere Kostenlose Bücher