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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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die Erde um die Karotten gehackt, ein paar Hände Stangenbohnen geerntet und einige schöne Tomaten. Kurt soll morgen Abend zurückkehren. Dann wird sie erfahren, wie alles gewesen ist.
    Den ersten, anspruchslosen Teil des Weges sind sie getrennt marschiert. Kurt ist vorausgegangen. Er hat darauf geachtet, nicht außer Sichtweite zu gelangen, was gar nicht so einfach war: Bergtel ist nicht durchtrainiert. Er ist geschwächt von der Lagerhaft. Immer wieder musste Kurt auf ihn warten, und zwar unauffällig: In den Niederungen des Gebirges treibt sich an schönen Hochsommerwochenenden viel ausflüglerisches Volk herum. Gegen Abend wurde es leerer. Dennoch erreichten sie die Hütte später als geplant.
    Am nächsten Morgen brachen sie zeitig auf. Hier oben waren sie allein. Sie marschierten gemeinsam. Zum Glück hielt das Wetter. Mehrfach mussten sie klettern, auf schmalen Älpler- und Schmugglerpfaden. Zweimal hatte Kurt ernste Bedenken, ob er seinen Schützling überhaupt heil auf die andere Seite bringen würde. Nach einem steilen Anstieg über Geröllhalden konnte Bergtel lange nicht weiter, und Kurt stand neben ihm und verzweifelte. Was, wenn dem Mann nicht mehr aufzuhelfen war? Aber Bergtel nahm seine Kraft zusammen.Dann entsetzte ihn der Blick in die Schlucht so sehr, dass er sich lange nicht auf den Felsgrat wagte. Aber nun ist auch diese Gefahr bestanden. Sie haben den Kamm des Gebirges erreicht. Sie haben ihn bereits hinter sich gelassen. Sie stehen an einen Felsen gelehnt und sehen hinab, wo unter ihnen in der wasserklaren Luft ein Steinadler seine Kreise zieht.
    »Die Schweiz«, sagt Bergtel.
    »Ja.«
    Also nun bergab. Kurt stützt Bergtel. Der Abstieg quält untrainierte Muskeln mehr als der Aufstieg.
    »Sind wir schon da?«
    »Ich bin nicht sicher.«
    Weiter. Und über die unsichtbare Grenzlinie geradewegs in die Schweiz hinein. Bergtel kauert auf dem Boden, das Gesicht tränennass. Kurt steht neben ihm. Er richtet den Blick über den Kopf seines Schützlings hinweg.
    »Komm, Genosse«, sagt er schließlich. »Ich begleite dich noch ein Stück, bis zu den drei großen Felsen dort unten. Ab da ist der Pfad klar erkennbar und leicht. Ich muss zurück. Ich habe es noch weit, bevor es dunkel wird.«
    Elisabeth hat die Wicken hochgebunden, das Unkraut zwischen den Kohlköpfen entfernt. Sie wischt sich die Stirn. Sie sieht auf die Uhr. Die Zeit vergeht, aber sie vergeht langsam, in tröpfelnder Stille. Elisabeth wünschte, sie könnte Kurt helfen. Sie hilft so gern. Sie würde die Welt so gern in Ordnung bringen. Sie glaubt, dass die Welt in Ordnung zu bringen wäre, wenn nur jeder mitmachen würde. Viele Leute sind prinzipiell auch bereit dazu. Sie wissen oft nur nicht, wo sie anfangen sollen.
    Dabei ist das egal. Es ist wie mit einem verwüsteten Zimmer. Zuerst steht man händeringend inmitten des Chaos. Aberdann stellt man eben den nächstbesten Stuhl wieder auf. Man sammelt die Scherben vom Boden, man stapelt die aus den Borden gerissenen Bücher, man wischt und wäscht ab und arbeitet sich allmählich vor, und irgendwann ist alles fertig.
    Elisabeth denkt an Kurt. Sie hat ihn den ganzen Weg im Geist begleitet, Kilometer für Kilometer der Reise, Schritt für Schritt über das Gebirge. Elisabeth überlegt, ob sie es Oda sagen würde, wenn Kurt auf seiner Bergtour verhaftet würde. Es ist aber ein unsinniger Gedanke.
    Einmal aus der gütigen Dunkelheit ins grelle Licht des forschenden Staates gezerrt, ginge es für sie alle nicht mehr um private Animositäten. Es ginge dann nur noch darum, niemandem die Gestapo auf die Fersen zu hetzen, niemanden den Gewalten auszuliefern. Sie sind wie kleine Tiere, in die Finsternis unter der riesigen Erdkruste gesperrt. Die Kruste lastet auf ihnen: die Gewalt dieses Reichs, seine Schwärze, sein atemberaubendes Gewicht. Warum das Flirren eines Glücks inmitten dieser Nacht zertreten? Warum sich nicht freuen über das, was Kurt bei Oda findet? Seine Zuneigung zu Oda schmälert doch nicht seine Liebe zu Elisabeth. Wird nicht im Gegenteil die Gesamtheit der Liebe durch jede neue Liebe vermehrt?
    Freilich muss man diese Haltung erst üben. Elisabeth geht langsam durch den Garten auf Kurts Atelier zu. Kurt ist nicht da. Elisabeth könnte Kurt eines Tages verlieren, das ist eine Möglichkeit. Und wenn es so wäre, wenn es sich nicht vermeiden ließe, wäre es dann nicht ein großes Glück, ihn nur an eine andere verloren zu haben?
    Elisabeth hat die Tomaten und das Gemüse in ein

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