Wer wir sind
hin.
»Ich heiße Klaus«, sagt er. »Klaus Bonhoeffer. Und das hier ist mein Bruder Dietrich.«
Sabine Bonhoeffer liegt in der Dunkelheit. Es ist die Dunkelheit ihres eigenen Zimmers. Sie klopft an die Wand. Sie klopft dreimal,
Gu-te-Nacht
Sie lauscht. Nach einem Moment kommt die Antwort, dumpf durch die Wand.
Tock-tock-Tock
Sabine lächelt, in der Dunkelheit. Sie stellt sich Dietrich vor, in seinem Bett, auf der anderen Seite der Wand. Die Bonhoeffers sind gerade umgezogen, in ein großes Haus in der Grunewalder Wangenheimstraße. Nun hat jedes der acht Bonhoefferkindersein eigenes Reich. Tagsüber findet Sabine es schön, ein eigenes Reich zu haben.
Tagsüber denkt sie gar nicht mehr an die Nacht. Sie vergisst, dass sie Dietrich in der Nacht vermisst. Natürlich können sie sich nicht bis an ihr Lebensende ein gemeinsames Reich teilen, das sieht Sabine ein. Sie sind schließlich keine kleinen Kinder mehr: Dietrich und Sabine sind am 4. Februar zehn Jahre alt geworden. Sabine wartet einen Moment. Dann klopft sie noch einmal,
Tock-tock-Tock
Einen Moment später kommt das Klopfen zurück. Als sie noch ein gemeinsames Reich teilten, haben Dietrich und sie einander oft fünf-, sechs-, siebenmal gute Nacht gewünscht. Keiner wollte, dass es der andere zuletzt gesagt haben sollte. Immer noch einmal riss man sich mit Mühe aus dem Schlaf,
Gute Nacht, Dietrich
Gute Nacht, Sabine
Dazwischen haben sie an die Ewigkeit gedacht.
Das ist schwieriger, als man meinen sollte. Das Sterben kann man sich ziemlich leicht vorstellen, jedenfalls das Fallen im Krieg: Es knallt, peng, die Kugel trifft, man fällt um, es tut weh. Es tut scheußlich weh. Dann ist der Schmerz weg. Alles ist weg. Das heißt, man ist tot. Wahrscheinlich ist man froh. Man ist froh, dass man es hinter sich hat, den Schmerz und das Sterben. Und dann beginnt das Totsein. Dietrich und Sabine haben versucht, sich dieses Totsein vorzustellen. Das ewige Leben. Ewigkeit. Sie haben versucht, einfach nur dieses Wort zu denken,
Ewigkeit. E-wig-keit
Es ist sehr schwer. Sabine hat sich immer wieder dabei ertappt, wie sie plötzlich gar nicht mehr an die Ewigkeit gedacht hat, sondern an den kleinen Schrank für ihre Puppe Clara, densie mit Blumen bemalen will, oder an die Rechenaufgaben für morgen oder an Vera von Trott zu Solz und ihre armseligen Schulbrote. Veras Vater ist preußischer Kultusminister, aber Veras Brote sind trotzdem immer bloß mit gekochten Wintererbsen bestrichen. Die Trotts haben immer Hunger. Wenn Vera und ihr kleiner Bruder Adam zum Essen bei den Bonhoeffers sind, dann essen und essen sie, bis alles abgeräumt wird. Natürlich hat Sabine ihre Gedanken immer schnellstens wieder zur Ordnung gerufen,
E-wig-keit
Eeeeee-wig- KEIT
Wenn man es lange genug durchhält, öffnet sich vor einem plötzlich die Dunkelheit, dröhnend und tief. Wenn man es zu lange durchhält, wird einem schwindlig. Sabine allein in ihrem eigenen Reich hat anfangs überlegt, ob sie auch ohne Dietrich an die Ewigkeit denken soll. Aber das wäre ungefähr, wie allein bei Dunkelheit in den Wald hinter Friedrichsbrunn zu gehen, wo die Bonhoeffers ihr Ferienhaus haben,
Tock-tock-Tock
Fast war Sabine eingeschlafen. Sie reißt sich noch einmal hoch. Sie klopft leise zurück,
Gu-te-Nacht
Sie überlegt. Dann klopft sie noch etwas.
Diet-rich
Und hat er verstanden? Sabine ist nun wieder hellwach. Atemlos liegt sie in der summenden Dunkelheit. Dann kommt es zurück, von der anderen Seite, leise und dumpf.
Tock-tock-Tock
Eine Pause. Und?
Tock-tock-tock
Sa-bi-ne
Christel Bonhoeffer streift mit ihrem Bruder Walter durch den Wald. Sie sind für den Sommer in das Harzer Ferienhaus der Bonhoeffers gezogen, wie jedes Jahr. Das Haus hat weder fließend Wasser noch Strom. Christel liebt das Haus. Sie liebt das Knarren seiner Stufen, das Knacken seiner Balken. Sie liebt den Sommergeruch nach Holz und Staub. Im Winter wuchern Eisblumen über die Fenster, das Wasser in den Waschschüsseln gefriert, und unten in der Stube raucht und bullert der Ofen. An den Sommerabenden spielen die Bonhoeffer-Kinder mit den Dorfkindern Ball auf der großen Wiese, die morgens voller Tau ist, wenn Christel und ihr Bruder Walter als Allererste hinaus ins Freie stürmen, Walter würde nie Ursel mitnehmen, auf seine Streifzüge durch die Harzer Wälder.
Ursel heult, wenn Walter auf einen Spatz schießt und trifft und das Blut spritzt. Christel heult nicht. Sie will schießen lernen. Sie lernt es
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