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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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werden?
    Wohin trägt man ein solches Glück? Wohin wird man getragen? Die Welle will Christel emporheben, die Treppe hinauf und über den Gang in ihr Zimmer schwemmen, Christel stemmt sich ihr mannhaft entgegen. Sie darf sich keinesfalls etwas anmerken lassen. Sie muss unter allen Umständen den Schein wahren: An eine offizielle Verlobung ist im Moment ja überhaupt nicht zu denken. Hans hat noch nicht einmal sein Studium beendet, geschweige denn die komfortable Stelle gefunden, auf der der Vater ohne Zweifel bestehen wird, die Mutter blickt zu ihrer Tochter empor.
    »Also, Christel. Sprich bitte mit Hans. Er ist manchmal etwas zu unbesorgt. Er scheint zu glauben, dass gutes Benehmen vor allem eine Sache schöner Worte ist.«
    Dieser Vorwurf nun wieder. Der generelle Bonhoeffersche Vorbehalt gegen alles, was gesucht oder womöglich unecht anmutet: Aber Hans ist doch nicht etwa aufgeblasen. Er ist nicht großspurig, ganz und gar nicht, auch wenn er gelegentlich Fremdwörter verwendet oder eine Geschichte erzählt, ohne vorher genau abzuwägen, ob der Anspruch, etwas berichten zu können, überhaupt an den Tisch der Bonhoeffers passt.
    »Ich werde mit Hans reden, Mama.«
    »Gut, mein Kind. Kommst du später noch einmal herunter?«
    »Ich denke nicht. Ich gehe bald zu Bett. Ich bin müde.«
    »Dann schlaf gut.«
    »Du auch. Gute Nacht, Mama.«
    Geschafft. Christel ist frei. Sie kann nun entfliehen, die Treppe hinauf und über die Diele, die Tür fällt hinter ihr zu. Das Zimmer nimmt sie auf. Hans’ Astern stehen auf dem Schreibtisch. Ein langer weißer Strumpf hängt über der Stuhllehne. Hans’ Buch liegt auf dem Nachttisch, oben auf einer Ausgabe von Goethe-Gedichten. Es liegt dort seit zwei Jahren: seit Hans es ihr geschenkt hat,
    Sophie, mein Henkersmädel,
    komm, küsse mir den Schädel!
    Zwar ist mein Mund
    ein schwarzer Schlund,
    Morgenstern. Die ›Galgenlieder‹: Hans’ erstes Geschenk an sie. Das Thema ihres ersten Briefs an ihn.
    Lieber Hans,
    vielen vielen Dank für das Buch. Ich habe jetzt andauernd darin gelesen, und das, obwohl ich griechische Verben zu lernen gehabt hätte –
    Und wie lange wird sie diese Geheimniskrämerei ertragen? Wie lange wird Christel es aushalten, ihrer eigenen Mutter Theater vorzuspielen?
    So lange, wie es eben nötig ist. Christel ist nicht zu Heimlichkeiten erzogen worden, aber sie wird sich daran gewöhnen. Sie nimmt das Buch in die Hand. Der Einband ist abgegriffen, staubfrei.
    Sophie, mein Henkersmädel,
    komm, schau mir in den Schädel!
    Die Augen zwar,
    sie fraß der Aar –
    Das Kichern steigt ihr in die Kehle, ununterdrückbar wie jedes Mal an der Stelle. Als wäre der Tod am Galgen nichts als ein bedauerliches Missgeschick. Als wären leergefressene Augenhöhlen eine kleinere Peinlichkeit, über die eine Dame taktvoll hinweggeht.
    Liebste! Ist es dir ernst?
    Sie hat es Hans wieder und wieder bestätigt. Er hat sie wieder und wieder gefragt.
    Ist es dir wirklich ernst?
    Wirst du mich wirklich heiraten?
    Sie hat Ja gesagt, ja, ja, ja, erst atemlos flüsternd, dann lachend und mit Überschwang. Zuletzt ernst, ganz ernst, immer hoffend, er würde sie noch einmal fragen und noch einmal. Und wird Hans wohl bereit sein, den Akzent in seinem Nachnamen zu streichen? Sie muss mit ihm dringend darüber reden. Dieses á ist doch ein wenig zu fremd. Es ist zu ausländisch, jedenfalls in einem Nachnamen für Christel Bonhoeffer. Außerdem werden sie Ringe brauchen. Darum wird Christel sich allein kümmern. Sie wird Hans nicht damit beschweren. Er hat ja kein Geld. Christel kann vielleicht ihre Präparate verkaufen: ihre Flusskrebse, die Feuersalamander, die Frösche in verschiedenen Entwicklungsstadien, die Wespen, Schmetterlinge und Wanzen, die sie zum Teil vom Vater erhalten, zum Teil noch mit Walter zusammen präpariert hat. Walter würde es völlig in der Ordnung finden, wenn Christel jetzt die Sachen verkauft.
    Der tote Bruder. Der Sammler und Jäger: Die Erinnerung an ihn ist wie in einem Glasdöschen aufbewahrt. Ihm würde Christel ihr Geheimnis verraten. Christel in der Wangenheimstraße 14 geht in ihrem Zimmer umher. Sie berührt hier einenBuchrücken, dort ein Bild. Sie berührt die Astern, die Hans ihr gestern mitgebracht hat, den Briefbeschwerer aus Glas, den Hans ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hat, es kommt Christel vor, als lebte sie schon sehr lange. Als wäre sie schon ziemlich alt, jetzt, hier, am Ende dieses einen Weges und am Anfang eines neuen,

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