Wer wir sind
heiraten. Sie wird ihr Studium abbrechen. Sie ist ganz erleichtert: Wahrscheinlich ist doch die Häuslichkeit das einzige Feld, auf dem die Frau genuin etwas Großes, Eigenes zu leisten vermag, weil sie hier ganz für das Glück der anderen da ist. Das hat sie auch schon an Hans geschrieben,
Wir Frauen brauchen andere Menschen. Wir brauchen es, andere zu lieben und in der Sorge für sie aufzugehen, so wie ihr Männer ganz im Sachlichen aufgehen könnt.
»Ich will frei sein«, sagt Gerda Walras. »Ganz frei. Ich kann mir nicht vorstellen, in engster Gemeinschaft mit jemandem zu leben, auf Gedeih und Verderb auf ihn angewiesen zu sein. Es geht ja nicht nur um die wirtschaftliche Machtlosigkeit. Es geht auch darum, dass das eigene Schicksal dann von einem anderen Menschen abhängt, von seinem Tun oder Nichttun, von seinem Sein oder Nichtsein. Es ist, als stellte man dem Schicksal eine Geisel. Nein. Dieser Gedanke ist mir unerträglich.«
Christel und Hans heiraten 1925 in Berlin und ziehen nach Hamburg, wo Hans von Dohnanyi sein Referendariat ableistet und nebenbei an Professor Albrecht Mendelssohn-Bartholdys Institut für Auswärtige Politik tätig ist. Das Institut soll die jüngste europäische Geschichte aufarbeiten. Es soll untersuchen, ob es in der Politik gesetzmäßig ablaufende Prozessegibt, deren Erforschung und Kenntnis dazu dienen könnten, weitere Kriege zu verhüten. Es soll Leitlinien entwickeln für eine friedensorientierte und demokratisch legitimierte Außenpolitik. Mendelssohn ist im Übrigen Mitglied der Vereinigung für eine Politik des Rechts, der auch Professor Delbrück angehört, Hans von Dohnanyis Ersatzvater seit Kindertagen. Wahrscheinlich steckt also er dahinter, dass Hans diesen Posten bekommen hat, so wie ja auch Adolf von Harnack seinen Neffen Arvid an Mendelssohns Institut empfohlen hat.
Arvid hat Hans von Dohnanyi in Hamburg willkommen geheißen. Sie sind einander seitdem mehrfach begegnet. Hans sieht ein wenig zu dem ein Jahr älteren Arvid auf, der bereits im Begriff steht, sein zweites Studium zu beginnen. Er erhofft sich auch einigen Nutzen daraus, dass Arvid den für Hamburger Referendare wichtigen Regierungsdirektor Meyer kennt. Aber darüber hinaus gibt es zwischen den beiden nicht allzu viele Berührungspunkte. Arvid Harnack ist in Aufbruchstimmung, er ist auf dem Sprung nach Amerika. Hans von Dohnanyi dagegen ist bereits ein verheirateter Mann.
Er ist nicht aus innerem Drang Jurist geworden. Er wollte vor allem schnellstmöglich Geld verdienen, um die Grundlagen für seine Ehe mit Christel zu schaffen. Nun allerdings ist er entschlossen, beruflich etwas zu leisten. Und geht Hans ganz im Sachlichen auf, wie Christel es von den Männern annimmt?
Hans möchte für Christel sorgen, damit sie für ihn sorgen kann. Christel lernt das Kochen, das Nähen. Gemeinsam entdecken sie die Freuden des unbeobachteten Lebens: Zum ersten Mal wohnen sie nicht in der Nähe ihrer Familien. Bald erwarten sie ihr erstes Kind. Und wer führt nun an Christels Statt Dietrich Bonhoeffers Haushalt?Aber Dietrich ist ja inzwischen so gut wie fertig mit dem Studium. Er wird in diesem Jahr 1927 seine Doktorarbeit abschließen. Im kommenden Januar wird er das erste theologische Examen ablegen. Und er hat sich verliebt, in eine Kommilitonin.
Sie sehen einander beinahe täglich. Sie sitzen im Hörsaal nebeneinander, sie diskutieren über Theologie, natürlich hat sie von Dietrichs Gefühlen keine Ahnung. Natürlich sind seine Gefühle ganz und gar einseitig, daran hegt Dietrich nicht den geringsten Zweifel. Es ist anders ja gar nicht möglich. Er hat deshalb auch zu niemandem davon gesprochen. Er will nicht von ihr sprechen. Er wünschte, er müsste nicht ständig an sie denken. Er wünschte, er müsste nicht so sehnsüchtig an sie denken. Er wünschte, er wäre frei, und diese ziehende schwere Verzweiflung fiele von ihm ab, dieser Überdruss, der wie Lehmklumpen an der Seele hängt, es ist eine Anfechtung. Acedia: die Krankheit der schwarzen Trauer, des Verfaulens bei lebendigem Leib, die Apathie, die dazu führt, dass man sich angeekelt abwendet von Gottes Schöpfung, dass man der Welt und dem eigenen Platz darin jeden Sinn abspricht, die Acedia ist eine Todsünde. Ein Christ ist nicht verzweifelt. Wie kann er es sein, wenn er doch in der Gnade lebt, wenn er alles aus der gütigen Hand Gottes empfängt?
Dietrich sitzt am Fenster in seinem Zimmer in der Wangenheimstraße. Von unten klingen die Stimmen
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