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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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bereits: Walter zeigt es ihr. Er hält ihre Hand, er stabilisiert den Lauf des Luftgewehrs. Dann drückt Christel ab und trifft die Schießscheibe, Christel denkt, dass sie bald sehr gut schießen wird.
    Sie denkt, sie hat das Prinzip begriffen: Vordergründig geht es darum, genau zu zielen, sich nicht ablenken zu lassen, die Hand ruhig zu halten. Aber das ist nur bei Schießscheiben so. In Wirklichkeit geht es um etwas anderes. Es geht um eine Verwandlung. Wenn man seine Beute sicher treffen will, muss man ihre Reaktionen vorausahnen. Man muss ihre Absichten erkennen, möglichst noch bevor sie entstehen. Man muss das Tier werden: Man muss zu der Beute werden, die man töten will. Christel hat Walter ihre Entdeckung noch nicht mitgeteilt. Sie muss sie erst ausprobieren. Sie weiß auch schon genau, was sie tun wird. So bald wie möglich wird sie selbst auf einen Spatz schießen, heimlich. Dann wird sie ja sehen, ob sie recht hat und trifft.
    Walter bleibt stehen. Er beugt sich vor, studiert etwas am Wegrand.
    »Das hier ist Fuchslosung. Hier muss ein Fuchs langgekommen sein.«
    Walter kann die Spuren aller Tiere unterscheiden, auf den Waldwegen zwischen Friedrichsbrunn und Thale. Er weiß, wo Enten nisten oder Habichte, wo Waldhimbeeren wachsen und Pilze. Er kennt die Verstecke der Krebse an den Teichufern, die sie fangen und kochen, so dass ihr Fleisch rot und süß wird. Walter und Christel fangen auch Eidechsen, Molche und Schlangen. Sie bauen Aquarien und Terrarien, und dann setzen sie die Tiere hinein und nehmen sie mit nach Berlin.
    »Wollen wir heute Krebse fangen, Walter?«
    »Mal sehen. Vielleicht später. Aber ich will noch trainieren.«
    Das ist ein bisschen ärgerlich. Neuerdings trainiert Walter jeden Tag für den Krieg. Er packt sich den Rucksack mit Steinen voll und macht einen Waldlauf, er macht Kniebeugen mit Gewichten. Wenn Walter trainiert, hat er keine Zeit für Christel, sie überqueren eine Lichtung.
    Die Sonne steht schon hoch. Es riecht nach warmer Erde, nach Holz. Hoch oben über ihnen kreist ein Falke. Walter zielt, schießt und trifft. Der Falke stürzt durch die Luft zur Erde. Er schlägt mit einem stumpfen Geräusch vor Walters Füßen auf. Seine Flügel zucken, zwei-, dreimal. Der Schnabel geht auf und bleibt offen. Der Hals verrenkt sich, streckt sich lang. Dann liegt der Vogel still. Walter steht starr. Ein Laut entringt sich ihm. Im nächsten Moment dreht er sich um und rennt, rennt über die Lichtung zurück in den Wald, in Richtung Friedrichsbrunn, Christel ruft ihm nach.
    »Walter!«
    Sie ruft noch einmal.
    »Walter, warte!«
    Dann ist sie allein. Sie beugt sich über den Falken. Sie betrachtet ihn genau. Das Loch im Bauch ist nicht sehr blutig. Die Federn sind am Rücken braun mit schwarzen Flecken, am Kopf blaugrau. Christel versucht, eine der braunen Federn herauszuziehen, aber die Feder löst sich nicht. Christel zieht stärker. Der Vogel hebt sich vom Boden. Der ganze Vogel scheint an dieser einen Feder zu hängen, Christel lässt los. Der Falke fällt zu Boden, mit demselben stumpfen Laut wie vorhin. Die Baumkronen rauschen. Christel sieht, dass die Augen des Falken sehr merkwürdig geworden sind. Dass sie immer merkwürdiger werden. Nun rennt auch Christel.
    Sie rennt quer durch den Wald. Sie rennt schneller und schneller, je weiter sie sich von dem Falken entfernt. Sie kommt auch voran. Sie weiß, wo sie ist, sie nähert sich dem Haus, zugleich ist es ihr, als käme sie nicht von der Stelle. Es ist, als würde sie nie wieder herausfinden aus der Welt des toten Falken, in die sie leichtsinnig einen Schritt hineingetan hat und in deren Mitte sie nun gefangen ist wie in einer Blase: Und dann auf einmal liegt vor ihr das Haus.
    Friedrichsbrunn liegt vor ihr. Menschenwelt. Auf der offenen Wiese jenseits des Waldes spielen die Brüder mit ein paar Dorfkindern Ball. Irgendwo singt jemand, Dietrich vielleicht,
    Über die Wellen gleitet der Kahn
    Pfarrer Priebe schreitet die Reihe entlang. Jetzt steht er vor Klaus Bonhoeffer. Jetzt vor Just Delbrück. Jetzt vor Gerhard Leibholz. Und gleich wird Hans von Dohnányi an der Reihe sein, einen Moment hat Hans Angst, dass ihm schlecht werden könnte. Es ist nicht die Aufregung. Es ist Hunger. Hans hat heute Morgen nur einen Fingerbreit Brot gefrühstückt. Es ist schlechtes Brot, halb Kleie, halb Sägemehl. Zeitungspapier ist darin eingebacken. Neulich hat Hans einen ganzen langenStreifen aus einem Brot gezogen. Irgendetwas über den Fall

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