Wer wir sind
Christel war zwölf, als sie in das Haus in der Wangenheimstraße gezogen sind. Es war das dritte Kriegsjahr. Die Mutter ließ Möhren säen, die Kinder legten Kartoffeln. Der Vater ordnete an, Hühner anzuschaffen, eine Milchziege.
Die Ziege ist immer noch da, auch die Hühner. Der Krieg ist vorbei, aber die Versorgungslage ist schlechter denn je, Christel ist froh, dass die Ziege da ist. Sie ist froh über die Kaninchen, die Hühner, den Garten. Sie liebt dieses Haus, seine Dielen und Flure, seine Wirtschafts- und Wohnräume, das Musikzimmer mit dem Flügel, das Südzimmer mit den Präparaten, das Bastelzimmer, in dem sie Strohsterne, Ostereier, kleine Mitbringsel fertigen, das alte Schulzimmer, in dem die Mutter die drei Jüngsten unterrichtet hat: Dietrich, Sabine und die kleine Suse. Christel liebt die Alpenlandschaften von Urgroßvater Kalckreuth, die Radierungen seines Sohnes Leopold, die holländischen Flusslandschaften und Stillleben. Sie liebt die Teppiche, die Lampen, sogar die Schüsseln, Töpfe und Tassen, die Fransen an den Deckchen und die Streifen in der Tapete. Alles hier sagt »zu Hause« zu Christel. ZU HAUSE, in Großbuchstaben. Das Haus umgibt sie wie eine Haut. Wie ein Kokon: den sie nun bald sprengen wird, um ihm zu entschlüpfen.
Liebste
Meine Liebste
Meine Frau
Bald, bald, hoffentlich bald meine Frau
Christel öffnet das Fenster zum Garten. Draußen rauscht die Septembernacht. Der erste Biss der Herbstkühle ist bereits fühlbar, in der nächtlichen Luft. Auf dem Heimweg vorhin war es noch ganz warm. Es dämmerte schon. Sie schoben die Räder. Sie gingen nebeneinander, ohne sich zu berühren. Sie gingen langsam, randvoll mit Schwüren, Beteuerungen, schwindlig von dem, worauf sie sich einließen: auf ihr Leben. Sie gingen durch die Franzensbader Straße, dann durch die Reinerzstraße. Der Weg, den sie gingen, war voller Bedeutung. Es war ja nun der Weg in die Zukunft, jeder Schritt ein Schritt auf dem Lebensweg, den sie zusammen gehen würden. Hans küsste sie noch einmal, mitten dort auf der Straße. Es war fast dunkel. Er glühte vor Glück, als er sie losließ: Und dann mussten sie sich furchtbar beeilen, damit Christel noch pünktlich zum Essen kommen würde. Hans hat es bestimmt nicht mehr rechtzeitig geschafft.
Ob seine Schwester etwas bemerkt hat? Ob seine Mutter ungehalten war? Christel sieht in den Garten hinaus. Die Baumkronen rauschen. Die Sterne halten still, über dem Haus. Einen Moment ist es ihr, als stünde Walter dicht hinter ihr. Sie denkt seinen Namen, wie einen Ruf. Dann denkt sie den ihren.
Hans und Christine von Dohnanyi
»Heiraten?«
Gerda Walras und Christel Bonhoeffer sitzen auf der Bank unter der Linde, wo sie oft die Vorlesungspausen verbringen. Gerda ist das einzige Mädchen, das Christel bis jetzt an der Universität kennengelernt hat.
»Ich werde niemals heiraten«, sagt Gerda Walras. »Ich könnte das nicht. Niemals könnte ich es ertragen, von einem Menschen abhängig zu sein.«
Christel ist erstaunt. Unter diesem Aspekt hat sie noch nieüber die Ehe nachgedacht. Wird sie von Hans abhängig sein, wenn sie ihn heiratet?
»Ja aber bitte, natürlich werden Sie das. Wer wird denn das Geld verdienen? Wer wird also darüber entscheiden, wofür man es ausgibt? Ganz davon zu schweigen, dass die Ehe eine Frau schon durch die Art der häuslichen Arbeiten zu einem besseren Dienstmädchen herabwürdigt.«
Christel runzelt die Stirn. Sie denkt an ihre Mutter. Ist Paula Bonhoeffer ein besseres Dienstmädchen? Die Idee ist absurd. Und wird Christel ihren Mann um ein paar Pfennige für neue Strümpfe bitten müssen, wenn sie erst einmal verheiratet sind? Wird Hans ihr die Groschen verweigern? Es erscheint Christel nicht nur lächerlich, sondern geradezu geisteskrank, eine Ehe unter solchen Aspekten zu betrachten. Eine Ehe besteht doch nicht darin, dass man einem Mann das Essen kocht und die Wäsche macht.
Dann wäre Christel ja mit ihrem Bruder Dietrich verheiratet, dem sie neben dem Studium den Haushalt führt. Manchmal kommt auch Just Delbrück zum Essen dazu. Christel stopft Just Delbrücks Strümpfe, weil dessen Wirtin sich weigert. Christel hasst es, Justs Strümpfe zu stopfen. Sie tut es aber trotzdem. Sie hat sich bei Hans über Dietrich und Just beschwert. Hans war besorgt. Wird Christel, wenn sie verheiratet sind, womöglich auch das tägliche Haushalten hassen?
Aber das ist natürlich Unsinn. Eine Ehe ist eine ganz andere Sache. Eine Ehe ist ein
Weitere Kostenlose Bücher