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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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für den Krieg trainiert. Er hat sich Sandsäcke auf den Rücken gebunden, er hat Kniebeugen gemacht und das Schießen mit Gepäck geübt, er wollte unbedingt in den Krieg ziehen.
    Er muss gewusst haben, dass man in einem Krieg sterben kann. Aber er wollte trotzdem dabei sein. Er hat seinen Fuß auf einen Weg gesetzt, und dann kam keine Kreuzung mehr, und also ist er weitermarschiert bis zum Ende des Weges, ist das ein Trost?
    Auch Waldemar Delbrück ist gefallen, Justs und Emmis ältester Bruder. Sein Grab liegt ganz in der Nähe von WaltersGrab. Die Leute nehmen die Hüte ab, an den Gräbern der beiden jungen Männer. Und nie, niemals, in hundert Jahren nicht wird irgendjemand über Waldemar oder Walter anders als mit Ehrerbietung und Liebe sprechen, auch wenn ihr Tod es nicht abwenden konnte, dass Deutschland am Ende besiegt worden ist, Christel hockt noch immer im Südzimmer.
    Ihre Beine kribbeln. Christel löst die Arme, mit denen sie ihre Knie umschlungen hält. Sie stützt sich auf, streckt die Füße nach vorn und wackelt mit den Zehen. Irgendwo im Haus schlägt eine Tür. Von draußen sind Stimmen zu hören. Christel merkt, dass sie Hunger hat. Sie steht auf, sie streicht ihren Rock glatt, wie spät mag es sein?
    Aus der Küche dringt der Duft von angebratenen Zwiebeln. Christel überlegt, dass sie morgen wieder in die Schule geht. Sie besucht das Grunewald-Gymnasium. In ihrer Klasse ist sie das einzige Mädchen. Sie muss aber Latein lernen, damit sie nach dem Abitur Zoologie studieren kann. Sie wird ganz sicher Zoologie studieren, es war mit Walter so ausgemacht. Christel überlegt, dass sie morgen nach der Schule mit ihrem Bruder Klaus und mit Just Delbrück zu den Gräbern gehen könnte. Sie könnten ihren toten Brüdern Blumen bringen: Die Kränze von der Beerdigung sind doch inzwischen sicher verwelkt. Christel tritt vor den Käfig mit der einsamen Blindschleiche. Christel ergreift den Käfig. Sie wird jetzt in den Garten gehen und die Blindschleiche freilassen.
    Von heute an wird sie jeden Tag ein Tier freilassen: erst die Schlangen, dann die Erdkröten und die Eidechsen, bis alle Tiere fort sind. Ein eigentümlicher Gedanke weht am äußersten Rand ihres Bewusstseins vorbei, streift sie sacht wie eine Vogelfeder.
    Walter hat es hinter sich.
    »Christel? Bitte, auf einen Moment, mein Kind.«
    Fast hätte sie es geschafft. Fast wäre sie sicher in ihr Zimmer gelangt, nach diesem Abendessen, das sich ganz unerträglich in die Länge gezogen hat, sie war schon an dem großen Alpenglühen von Urgroßvater Stanislaus Kalckreuth vorbei. Sie hatte den Treppenabsatz schon erreicht, wo Onkel Leopold Kalckreuths Radierungen hängen.
    »Mama?«
    »Ich wollte es dir heute Morgen schon sagen. Wenn der junge Dohnányi dir Blumen mitbringt, dann soll er sie unten in der Küche abgeben. Er kann nicht einfach in dein Zimmer hineinmarschieren und sie selbst in eine Vase stellen.«
    »Ja, Mama.«
    »Bitte bedenke, es könnten Strümpfe von dir herumliegen.«
    »Natürlich, Mama.«
    Und haben Strümpfe herumgelegen, als Hans ihr gestern die Astern gebracht hat? Und warum hat er sie nicht schon gestern geküsst? Die Ungeduld klumpt sich in Christels Kehle zusammen wie Eulengewölle. Christel will nicht hier auf der Treppe stehen. Sie will nicht mit der Mutter reden. Sie will in ihr Zimmer gehen und Hans einen Brief schreiben, in dem sie ihn fragt, warum er sie nicht schon gestern geküsst hat, es ist der 28. September 1921.
    Christel wird diesen Tag niemals vergessen. Sie wird nicht vergessen, dass sie an diesem 28. September siebzehn Jahre alt gewesen ist und Hans neunzehn. Sie wird nicht vergessen, dass sie das grüne Kleid anhatte und er den grauen Pullover, dass der Spätsommerhimmel über dem Hohenzollerndamm geleuchtet hat wie aus Glas, und direkt vor Nummer 89 kamen ihr drei junge Pudelchen entgegengetollt, so freudig, als hätten sie gerade auf Christel gewartet. Eigentlich wollte sie nur Hans’ Schwester Grete besuchen. Wollte sie Grete besuchen?Sie musste dazu durch Hans’ Zimmer gehen. Sie klopfte an seine Tür. Er öffnete. Sie trat ein. Er schloss die Tür. Er stand da. Sie ging nicht mehr weiter. Er nahm sie in die Arme und küsste sie. Küsste sie und küsste sie, vor Gretes Tür, in dieser kleinen engen Nische zwischen der Wand und seinem riesigen Schreibtisch, dessen Ecke sich schmerzhaft in ihren Oberschenkel grub.
    Ich liebe dich
    Hat er das gesagt?
    Liebste
    Er hat das gesagt.
    Willst du meine Frau

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