Wer wir sind
Leben. Just und Dietrich sind nicht Christels Leben. Was Christel für Dietrich und Just tut, führt nirgendwo hin, es behindert sie nur beim Studieren. Tatsächlich ist Just gemein. Er spielt Christel gegenüber nur zu gern die Rolle des älteren Bruders, aber im Kreis der Studenten reißt er blöde Witze, genau wie die anderen. Er scharrt mit den Füßen und johlt, wenn Christel oder ein anderes Mädchenden Hörsaal betreten. Und dann hat die Mutter ihr vor einiger Zeit doch allen Ernstes nahegelegt, sie möchte lieber Just als Hans heiraten.
»Christel, mein Kind. Hans hat keine guten Aussichten. Er ist das Kind einer gescheiterten Künstlerehe. Er ist immer ein wenig großspurig, und er ist katholisch erzogen. Just und du, ihr würdet so gut zueinander passen. Der familiäre Hintergrund ist ähnlich, auch der religiöse. Solche Ähnlichkeiten können entscheidender für das Gelingen einer Ehe sein als romantische Gefühle.«
Christel hat die Mutter gefragt, ob sie vergessen hat, dass Hans protestantisch konfirmiert worden ist. Die Mutter hat Christel daran erinnert, dass die Eltern nichts als Christels Wohl im Auge haben. Das ist natürlich wahr. Christel hat also alles daran gesetzt, die Eltern davon zu überzeugen, dass es Hans ist, den sie zu ihrem Wohl braucht. Das haben die Eltern inzwischen akzeptiert. Sie haben Hans angenommen, als zukünftigen Schwiegersohn. Seitdem hat sich das Blatt gewendet. Nun stärken sie Hans den Rücken, wenn er seine Wünsche äußert.
»Mein liebes Kind«, sagt der Vater. »Wenn du entschlossen bist, Hans zu heiraten, und er als dein zukünftiger Mann auf eine baldige Hochzeit drängt, dann ist es kaum vertretbar, ihn wegen deiner Doktorarbeit noch ein oder zwei Jahre lang hinzuhalten. Du wirst auf die Promotion verzichten müssen. Das Studium ist nun ja ohnehin nicht mehr sinnvoll.«
Im Grunde stimmt Christel den Eltern zu. Christel hat auch gar keine Lust mehr zu studieren. Christel wird heiraten, sie wird mit Hans in Hamburg einen eigenen Hausstand gründen. Er wird seine Referendarausbildung absolvieren und seine Promotion vorbereiten, und Christel wird ihn dabei unterstützen. Sie wird es ihm wohnlich, gemütlich und nett machen. Siewird sich um Haus, Garten und zukünftige Kinder kümmern, um die Freunde und die Familie, so wie Paula Bonhoeffer es ihren Töchtern vorgelebt hat, jemand muss im Mittelpunkt des Gewebes verankert sein, das alles überspannt. Jemand muss der Pfahl sein, an dem die anderen sich emporranken, sonst liegt alles zertreten am Boden.
»Mann und Frau brauchen doch einander, meinen Sie nicht?«, sagt Christel zu Gerda Walras. »Die Abhängigkeit des Mannes von der Frau ist doch im Grunde ebenso groß. Es ist nur eine andere Art von Abhängigkeit.«
»Unsinn«, sagt Gerda Walras. »Das versucht man uns natürlich einzureden. Aber wer das Geld hat, hat das Sagen. Und überhaupt, wie kann man sich damit abfinden, den Rest seines Lebens Köchin zu sein? Wer einmal in der Forschung tätig war, dem kann das doch niemals mehr genügen.«
Christel schweigt.
Sie wünschte, sie könnte anständig kochen. Sie wünschte, sie könnte irgendetwas Wirkliches: ein Hemd faltenfrei bügeln, Socken stricken, Pflaumen einmachen, Salat ziehen. Tatsächlich ist sie noch weit davon entfernt, den Ansprüchen zu genügen, die die Ehe an sie stellen wird. Die Bonhoeffers hatten ja immer Dienstmädchen. Christel hat schon erwogen, sich selbst für eine Weile als Dienstmädchen zu verdingen, damit sie endlich einmal etwas Nützliches lernt. Aber die Eltern haben es ihr verboten. Christel ist sich nicht sicher, ob es am Ende nicht womöglich leichter wäre, Zoologin zu werden als eine gute Hausfrau, Ehefrau und Mutter. Die Zoologie ist immerhin ein Beruf, den man studieren kann.
»Und was ist mit Kindern?«, sagt Christel zu Gerda Walras. »Wollen Sie denn keine Kinder haben?«
Gerda Walras schnaubt. »Kinder. In der heutigen Zeit? Wer kann denn die Verantwortung übernehmen, Kinder in dieseWelt zu setzen? Nein, meine Entscheidung ist gefallen. Ich bin dreiundzwanzig. Ich werde nächstes Jahr promovieren. Ich werde das Leben einer modernen Frau führen.«
»Ich wünsche Ihnen dabei viel Glück«, sagt Christel.
Sie steht auf, sie packt ihre Sachen zusammen. Christel sieht jetzt klar. Sie ist sehr froh, dass sie diese absonderliche Person getroffen hat. Sie weiß nun genau, was sie keinesfalls will: Sie will sich nicht in Gerda Walras verwandeln, Christel wird Hans
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