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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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von Bagdad stand darauf. Alle Leute hungern. Aber Hans hat den Eindruck, dass es die Dohnanyis besonders hart trifft. Sie sind eben eine Familie ohne Vater. Hans hasst es, wenn er das denkt, aber er denkt es oft, zum Glück ist Hans weiterhin ein gern gesehener Gast in den großen Häusern der Wangenheim- und der Kunz-Buntschuh-Straße.
    Er nimmt teil an den Tanzabenden und Musizierstunden dort, er spielt Tennis mit den Delbrücks, Harnacks und Bonhoeffers: Und jetzt wird der Katholik Hans von Dohnányi von Pfarrer Priebe konfirmiert, gut evangelisch-lutherisch und ganz genau so wie seine protestantischen Freunde Just Delbrück und Klaus Bonhoeffer. Genau so wie Gert Leibholz, der jüdischer Herkunft ist und neuerdings mit zu ihrem Kreis gehört.
    Hans öffnet den Mund. Die Oblate klebt auf seiner Zunge. Dann klebt sie am Gaumen. Hans hat den Mund voll mit bitterem Wein, dann voll mit bitterer Spucke. Hans schluckt und schluckt, während der Pfarrer weitergeht, der Segen gesprochen wird, die Konfirmanden erheben sich. Sie wenden sich wieder der Gemeinde zu,
    Vertraut den neuen Wegen,
    auf die der Herr uns weist,
    Vertraut den neuen Wegen
    und wandert in die Zeit!
    Gott will, dass ihr ein Segen
    für seine Erde seid.
    Christel hockt im Südzimmer. Sie hockt hier seit einer Ewigkeit. Sie wird hier für immer und immer hocken: Die Zeit ist stehengeblieben. Christels Bruder ist tot. Walter Bonhoeffer, der Jäger und Sammler: Er ist seinen Kriegsverletzungen erlegen,nach dem allerletzten Großangriff im Westen, es ist der 28. Mai 1918. Am 10. Dezember wäre Walter achtzehn geworden. Christel sitzt in der Wangenheimstraße.
    Sie sitzt zwischen den Aquarien und Terrarien, die sie und Walter zusammengebaut haben, zwischen den Eidechsen, Molchen und Schlangen. Es ist aber auch hier nichts mehr von Walter zu finden. Nichts regt sich im Haus. Nichts geschieht. Der Tod greift nach jedem einzelnen lebendigen Moment und lässt ihn erstarren. Oben im Elternschlafzimmer wird die Mutter von ihrem Schmerz verschlungen. Alle anderen Bewohner der Wangenheimstraße gehen auf Zehenspitzen, ducken sich, halten sich nahe an den Wänden. Christel beginnt gerade erst zu begreifen, was wirklich geschehen ist.
    Es ist nicht leicht herauszufinden. Die wesentlichen Sachen sind ja nicht offensichtlich. Man kann sie nicht erfragen. Sie werden nicht erklärt. Sie sind von Belanglosigkeiten verschüttet, unter zufälligen Bemerkungen begraben, aus denen man sie herausklauben muss wie Edelsteine aus einem Berg Kiesel, offenbar haben die Eltern den offiziellen Depeschen vertraut.
    Professor Dr. Bonhoeffer hat den Berichten seiner Kollegen geglaubt, die einen Besuch im Lazarett für unnötig erachtet hatten: Walter war ja nur leicht verletzt. Er hatte kaum mehr als einige Kratzer an den Beinen davongetragen, von ein paar Granatsplittern. In einer Woche, spätestens in zehn Tagen würde er reisefertig sein. Dann würde man ihn nach Hause schicken, zur Rekonvaleszenz. Das Telegramm, das die dramatische Verschlechterung von Walters Zustand anzeigte, ist gleichzeitig mit der Todesnachricht eingetroffen. Und dann letzte Woche kam der Umschlag mit Walters letztem Brief.
    Heute hatte ich die zweite Operation, bei der tiefere Splitter entfernt werden mussten. Ich hoffe, dass der Fall damiterledigt ist. Meine Technik, an den Schmerzen vorbeizudenken, muss in letzter Zeit doch ziemlich herhalten.
    Voll Sehnsucht denkt an Euch, Ihr Lieben, Minute um Minute der langen Tage und Nächte
    Euer noch immer so weit entfernter Walter
    Manchmal schreit die Mutter auf, oben in ihrem Zimmer. Es ist kein richtiger Schrei. Es ist eher ein Aufheulen, das in stöhnender Tiefe beginnt, emporwankt und in einem hohen Ton endet, bevor es abbricht. Dann ist es wieder lange Zeit still. Der Vater ist oben und gibt ihr Medikamente. Christel hockt im Südzimmer.
    Sie blickt zurück. Hinter ihr liegt die vertraute Welt: die Welt von Christels Kindheit, üppig, prall gefüllt. Sie liegt noch in Sichtweite. Aber sie ist unbetretbar geworden. Walters Tod hat sich vor sie geschoben wie ein Riegel. Die neue Welt ist karg. Nichts geschieht in ihr. Christel blickt nach vorn, wo die Zeit nicht vergeht, sie weint aber nicht.
    Walter hat nicht geweint. Er hat nie geweint, nicht einmal, als er sich damals in Friedrichsbrunn den Ast in den Arm gerammt hat und in Thale genäht werden musste. Nicht einmal bei dem Falken, der durch die Luft auf die Erde stürzte, vor seinen Füßen aufschlug, Walter hat

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