Wer wir sind
der anderen herauf. Man hat sich wegen des wunderbaren Sommerwetters zum Kaffee in den Garten begeben, auch Dietrich wird gleich wieder hinuntergehen.
Onkel Dietrich: Er ist der Pate der kleinen Marianne, deren Taufe sie heute feiern, des ersten Kindes seiner Zwillingsschwester Sabine und ihres Mannes Gerhard Leibholz. Sabine und Gert haben letztes Jahr geheiratet, nicht zur reinen Freude von Sabines Vater.
Gert ist freilich ein sehr angenehmer Mensch. Er ist intelligent, er ist fleißig: Mit neunzehn hat er über Fichte und den demokratischen Gedanken promoviert, dann hat er Jura studiert und mit zweiundzwanzig Jahren seinen zweiten Doktortitel erworben, dennoch fürchtet Karl Bonhoeffer, dass sein Schwiegersohn beruflich vielleicht nicht so vorankommen wird, wie er es verdient. Man wird ihm möglicherweise weniger begabte junge Männer vorziehen.
»Ich sehe es doch bei meinen jüdischen Kollegen«, hat der Vater zur Tochter gesagt. »Ich sehe, dass selbst mein Einsatz oft nicht zu helfen vermag.«
Sabine hat sich aber nicht beirren lassen. Sie hat lediglich eingewilligt, mit der Heirat noch zwei Jahre zu warten, bis zu ihrem zwanzigsten Geburtstag.
Und nun ist sie einundzwanzig, und sie ist Mutter.
Volljährig ist sie, erwachsen wie Dietrich, Dietrich sitzt in seinem Zimmer. Er lässt das Unglück, das heulende Elend, die wilde Sehnsucht emporsteigen, er lässt zu, dass sie ihn überschwemmen, gleich wird er den Kampf aufnehmen. Gleich wird er in der Lage dazu sein. Dietrich Bonhoeffer vergräbt das Gesicht in den Händen. Er überlegt, dass er ins Ausland gehen sollte. Er muss fort.
Heb auf, was Gott dir vor die Tür legt!
Das hat Onkel Adolf einmal zu Emmi Delbrück gesagt. Adolf von Harnack: Er hat mitten im sonntäglichen Bocciaspiel auf der Wiese zwischen dem Delbrück- und dem Harnack-Haus innegehalten.
»Emmi, mein Kind. Eine Frau muss keine großartigen Lebenspläne haben. Das behindert sie nur in ihren Pflichten. Aber nimm dir vor, dass du immer aufheben willst, was Gott dir vor deine Tür gelegt hat.«
Und das wäre was? Emmi sitzt im Wohnzimmer der Bonhoeffers. Sie ist zu einer kleinen Tanzerei herübergebeten worden: Gert Leibholz ist inzwischen als Professor in Greifswald tätig, und nun ist er mit Sabine zu einem kurzen Besuch nach Berlin gekommen. Emmi wollte eigentlich am liebsten absagen und zu Hause bleiben. Aber Klaus und Dietrich Bonhoeffer haben sie gedrängt, und auch die Mutter hat ihr zugeredet.
»Geh ruhig, Kind. Es tut dir gut, wenn du ein wenig aus dem Haus kommst.«
Also hat Emmi sich einen Stoß gegeben. Und hier sitzt sie nun. Dietrich spielt wie üblich Klavier. Er ist erst vor einigen Monaten aus Spanien zurückgekehrt, aus Barcelona, wo er Vikar der dortigen Auslandsgemeinde war. Auch Emmi ist in Spanien gewesen.
Sie ist nach Madrid gereist, um ihre Schwester nach der Geburt ihres ersten Kindes zu pflegen. Dann ist sie ganz allein weitergefahren, immer weiter nach Süden bis hinunter ins wilde Marokko. Und in dieser Zeit ist ihr Vater gestorben. Es ist schwer, einen solchen Tod zu fassen. Emmi hat sich ja nicht vom Vater verabschieden können. Gegen alles Wissen rechnet sie noch immer damit, dass sein Tod sich als ein Irrtum herausstellt.
Dietrich spielt einen Walzer. Es wird getanzt. Emmi fühlt sich fremd. Wie ist das möglich? Eine ganze Jugend lang haben sie zusammen in diesen Räumen getanzt, die Dohnanyis und Delbrücks, Bonhoeffers und Harnacks. Nun sind Sabine Bonhoeffer und Gert Leibholz verheiratet, ebenso Christel Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi. Hans’ Schwester Grete hat sich mit Karl Friedrich Bonhoeffer verlobt, und Ursula Bonhoeffer hat den Regierungsrat Rüdiger Schleicher geehelicht, der als Einziger nicht von Anfang an zum Bonhoefferschen Jugendzirkel gehört hat. Emmi verschränkt die Arme.
Klaus ist nicht da.
Er hat so gedrängt, dass sie kommen solle, und nun ist er nicht da. Am anderen Ende des Bonhoeffer-Salons ist Unruhe entstanden. Ein verspäteter Gast ist eingetroffen: eine füllige junge Dame, die nun von einem zum anderen geht, jeden Einzelnen begeistert begrüßt. Emmi zieht die Brauen hoch.
Emilie Delbrück, schmal, selbstverständlich ungeschminkt, mit feinem Gesicht und straffgescheiteltem aschblondem Haar: Sie muss aufpassen, dass sie die füllige Dame nicht anstarrt. Die Dame ist unglaublich vulgär. Ihr Rock ist zu kurz, ihre Bluse zu eng. Der kokette Gesichtsschleier lässt den bemalten Mund frei, den sie den Männern
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