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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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aufreizend hinhält, wie konnte sich eine solche Person zu Bonhoeffers verirren?
    Aber Emmi könnte lachen. Zum ersten Mal seit dem Tod ihres Vaters empfindet sie eine unbändige Lachlust. Es liegt an den empörten Gesichtern der weiblichen Gäste. Ein Jüngling küsst errötend die Hand der vulgären Person, ein älterer Herr verneigt sich vor ihr, dann wirbelt er mit ihr auf die Tanzfläche hinaus: Und nun presst Emmi die Hand vor den Mund. Nun funkeln ihre Augen, nun ist sie sehend, wie konnte sie nur dermaßen blind sein?
    Die üppige Dame ist Klaus Bonhoeffer.
    Emmi hat oft genug mit Klaus Bonhoeffer getanzt, um diese Drehungen zu erkennen. Klaus ist nicht ganz schlank, das ist wahr. Er isst gern, er schätzt gute Weine, er verfügt über ein kleines Mokkaservice, mit dem er sich nach dem Essen selbst den türkischen Trank braut, aber er ist ein eleganter Tänzer, Emmi braucht all ihre Selbstbeherrschung, um nicht vor Vergnügen aufzuschreien, die anderen Gäste am Arm zu packen und ihnen ihre Erkenntnis zuzuflüstern. Und jetzt löst sich die Dame aus den Armen ihres Galans. Sie kommt direkt auf Emmi zu. Emmi legt die Hände an die Wangen, lacht ihm entgegen.
    »Schönes Fräulein«, sagt Klaus zu ihr. Er lüftet den Schleier ein winziges bisschen. Sie sieht seine Augen: sehr männliche Augen. »Darf ich fragen, was Sie hier tun, inmitten all dieser erregten Damen? Sie sind kaum halb so alt wie die anderen und nicht ein Viertel so breit. Bitte treffen Sie mich in zehn Minuten draußen in der Diele. Ich muss Ihnen eine wichtige Frage stellen.«
    Die Gedenkstunde kann nun endlich beginnen. Sie sind jetzt alle versammelt, die Mitglieder der vielfach miteinander verflochtenen Familien der Harnacks, Delbrücks, Bonhoeffers und Dohnanyis. Die Stimmen sind gedämpft, wie es dem Anlass entspricht. Es ist viel Prominenz erschienen. Vertreter der Wissenschaft, der Politik, des öffentlichen Lebens schreiten gemessen die Stuhlreihen entlang, beugen sich über die Hände der verwitweten Schwestern in der ersten Reihe, Amalie von Harnack und Caroline Delbrück haben beide ihre Männer verloren, innerhalb von nur zwölf Monaten. Es ist der 15. Juni 1930, 11.30 Uhr.
    Durch die geöffneten Fenster des Goethe-Saals strömt der Duft der Lindenblüten herein. Der Glanz des Sommerhimmels draußen über dem Park will nicht recht zur Trauergarderobe der Anwesenden passen: Das denkt Ernst von Harnack, der ganz hinten im Saal steht, er fühlt sich ein wenig unwohl.
    Natürlich liegt das zum Teil an der Wärme. Es liegt an dem Kragenknopf, der heute eng sitzt wie nie. Vor allem liegt es aber daran, dass Ernst sich ständig dabei ertappt, auf die Ankunft seines Vaters zu warten. Der Regierungspräsident von Merseburg Ernst von Harnack ist zweiundvierzig Jahre alt und längst selbst mehrfacher Vater: Aber es will ihm noch immer nicht in den Kopf, dass Adolf von Harnack heute nicht teilnimmt, an dieser Feier zu seinen Ehren. Freilich, der Vaterwar beinahe achtzig. Aber ist das Ausmaß der Lücke, die einer hinterlässt, eine Frage der Jahre?
    Ernst hat nicht damit gerechnet, dass sein Vater nicht mehr von dieser Vortragsreise nach Heidelberg zurückkehren würde. Er hat nicht damit gerechnet, dass die Trennung so plötzlich kommen würde, so unangekündigt, Adolf von Harnack ist vor fünf Tagen gestorben. Seitdem hat die Trauerfeier in Heidelberg stattgefunden, die Einäscherung in Berlin, die Gedächtnisfeier der Berliner Theologischen Fakultät. Nun ist noch diese Gedenkstunde der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu überstehen. Und dann ist es vorbei. Dann wird man mit seinem Verlust ins Private entlassen.
    »Die Demokratisierung der Kirche. Ein entschiedenes Wirken für Frieden und Völkerverständigung. Das umschreibt unsere Aufgaben.«
    Adolf Grimme steht neben Ernst. Der preußische Kultusminister, Sozialdemokrat und Parteifreund aus dem Bund religiöser Sozialisten: Er spricht mit Ernsts Vetter Arvid, Ernst hat die beiden vorhin miteinander bekanntgemacht, auf Arvids dringenden Wunsch. Arvids Ansinnen gerade jetzt war vielleicht nicht sonderlich pietätvoll. Andererseits ist dies womöglich der wahre Sinn solcher Gedenkstunden: unter dem Bild des Verstorbenen Menschen zusammenzuführen, die einander sonst gar nicht begegnet wären, Arvid und Adolf Grimme stehen dicht beieinander, einander zugeneigt. Ernst fällt auf, dass sie das gleiche Brillenmodell zu tragen scheinen, die gleichen randlosen Gläser, die gleichen goldfarbenen

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