Wer wir sind
sucht ihre Finger und umschließt sie. Seine Augen beginnen zu lächeln, obgleich sein Mund angemessen ernst bleibt. Kann man einem Menschen wahrhaft vertrauen, den man nach seinem zwölften Geburtstag kennenlernt? Emmi könnte trällern. Das Leben liegt vor ihr wie ein Sommertag. Wie durchsonnter Frühnebel, goldblendend und verheißungsvoll.
Vorn am Pult verneigt sich der Redner.
Aber der nächste steht schon bereit: Reichsinnenminister Joseph Wirth, der der Familie ein weiteres Mal sein tiefempfundenes Beileid ausspricht, noch einmal die Schwere des Verlusts betont, der die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die Gemeinde der Wissenschaftler, die ganze Nation trifft mit dem Hinscheiden dieses vorzüglichen Mannes: des Kirchenhistorikers Adolf von Harnack, noch vom Kaiser persönlich geadelt für seine Verdienste um Volk und Reich, Professor für Theologie, Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, Königlich-Preußischer Wirklicher Geheimrat, ehedem Generaldirektor der Königlichen Bibliothek und Preußischen Staatsbibliothek, Kanzler der Friedensklasse des Ordens Pourle Mérite, Träger des Adlerschildes des Deutschen Reiches und der nach ihm benannten Harnack-Medaille und erster Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.
»Und so geht mit seinem Hinscheiden eine Epoche zu Ende.«
Ja. Ja doch. Mag sein! Aber was weiß der Mann? Christel von Dohnanyi ist mit einem Mal indigniert. Was reden sie alle? Was heißt das überhaupt: Ende einer Epoche? So plötzlich enden Epochen nicht. Sie brechen nicht mit einem Schlag ab. Sie versanden allmählich. Ein alter Mann stirbt, dann stirbt der nächste. Die Kinder werden erwachsen, heiraten und gehen fort. Die Enkel kehren nicht mehr zurück. Die Urenkel leben verstreut, sie vergessen. Räume leeren sich, bleiben leer, Fenster stehen offen. Enfernungen wachsen. Türen schlagen quietschend im Wind, Regen rinnt an den Wänden herunter, dann stürzt das Dach ein. Holunder und Birkenschösslinge treiben aus den Ruinen.
Darum sollt ihr das Land nicht verkaufen für immer. Denn das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge und Gäste bei mir.
Irgendjemand hat das vorhin gesagt. Es ist ein Bibelspruch. Christel weiß nicht, wo er steht. Sie wird nachher ihren Bruder Dietrich fragen, der vor ein paar Momenten ans Rednerpult getreten ist, es ist wirklich nett von Dietrich, dass er sich die Zeit nimmt.
Er legt immerhin gerade das Zweite Theologische Examen ab. Für die Ordination ist er allerdings noch zu jung. So wird er vorerst als Stipendiat am Union Theological Seminary in New York unterkommen, bis er das vorgeschriebene Mindestalter von fünfundzwanzig erreicht hat.
»Jeden, wem auch immer er begegnete, zwang er zur Ehrfurcht vor einem Leben, das im Geist und im Kampf um die Wahrheit geführt wurde«, sagt Dietrich.
Er spricht über Adolf von Harnack, seinen Lehrer. Er sprichtwie immer, wenn er öffentlich spricht: schwer, stockend, suchend. Dabei ist er im Privaten durchaus gewandt. Er ist schlagfertig, witzig, er kann die Dinge auf den Punkt bringen. Christel von Dohnanyi sieht zu ihrer Schwester Sabine hinüber.
Sabine hält Gerts Hand. Sie erwartet ihr zweites Kind. Man sieht noch nichts, aber Sabine hat Christel die Nachricht vorhin zugeflüstert. Sabine sitzt kerzengerade, angespannt, jeden der Sätze ihres Zwillingsbruders mit ihm durchleidend. So war es schon immer. Als kleine Kinder waren Dietrich und Sabine wie eine Person. Wenn man den einen rief, kamen beide. Wenn man den einen schalt, weinten beide. Wenn Dietrich etwas erhielt, dankte Sabine, als hätte sie das Geschenk empfangen. »Sabine hat Hunger« konnte auch Dietrichs Hunger meinen, »Didi weint« konnte im Munde des einen wie des anderen Dietrichs, Sabines oder ihrer beider Tränen bezeichnen. Solche Bande sind unzerreißbar.
Familienbande sind unzerreißbar. Die Dohnanyis verdanken Christels Eltern ihre Möbel. Sie verdanken Paula Bonhoeffer das Kindermädchen für ihre drei Kinder. Sie verdanken es der Familie, dass sie überhaupt nach Berlin zurückgekehrt sind: Gert Leibholz hat Hans von Dohnanyi für einen Posten vorgeschlagen, der ihm selbst angeboten worden war. Hans ist nun persönlicher Referent des Reichsjustizministers Franz Gürtner. Christel sieht zu ihrem Mann hin, der Dietrich mit brüderlichem Stolz lauscht. Hans nennt die Eltern Mutter und Vater. Sie betrachten ihn als ihren Sohn. Und gibt es einen größeren Segen als den, dass die, die man liebt, auch einander lieben?
In Hamburg
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