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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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waren die Dohnanyis frei. Sie lebten ganz aufeinander konzentriert. Sie hatten sich einen eigenen Freundeskreis aufgebaut, fern von der Familie: Aber natürlich war es richtig, Hamburg zu verlassen.
    Hans’ Karriere hat schließlich Vorrang. Sie müssen darauf bedacht sein, dass Hans vorankommt, und hier in Gürtners Ministerium sitzt er im Zentrum der Geschehnisse. Aber warum hat Christel dann manchmal das Gefühl, die unbeschwertesten Jahre lägen womöglich schon hinter ihnen? Vorn am Pult kommt Dietrich zum Ende.
    »Wir sahen in ihm den Vorkämpfer des freien Ausdrucks einmal erkannter Wahrheit. Das ist sein Vermächtnis an uns: echte Freiheit des Schaffens und Lebens, und zugleich tiefstes Gehalten- und Gebundensein, durch den ewigen Grund alles Denkens und Lebens.«
    Die Worte verklingen in einem tiefen Moment des Schweigens. Dann setzt die Musik wieder ein. Beethoven, ›Opus 135‹. Der langsame Satz.

    Wenn der Sturmsoldat ins Feuer zieht,
    Dann hat er frohen Mut,
    Und wenn das Judenblut vom Messer spritzt,
    Dann geht’s noch mal so gut.
    Der letzte Akt des Kampfes um die Republik hat begonnen. Gegenüber der SA geraten Stahlhelm und Jungdeutscher Orden, die vaterländischen Verbände und die zahllosen miteinander rivalisierenden deutschvölkischen Gruppen und Grüppchen mehr und mehr ins Hintertreffen.
    Die Juden und Marxisten,
    Die bringen uns kein Heil,
    Den Severing und Genossen
    Erschlagen wir mit dem Beil.
    Aber auch untereinander sind die Stürme nicht selten zerstritten. SA ermordet Kommunisten, SA schikaniert jüdisch wirkende Mitbürger, und SA verdrischt begeistert SA, auf Straßen, in Gaststätten und in Bierkneipen. Nacht für Nachtgeht der ehemalige Waldorfschüler und gelernte Gärtner Maikowsky mit seinem berüchtigten Charlottenburger Sturm 33 auf die Jagd,
    Wir sind die Nazileute
    vom Mördersturm Charlottenburg
    vom Mördersturm Charlottenburg!
    Schamhaftes Schweigen kann man diesen Leuten kaum vorwerfen, jedenfalls nicht in Berlin. Vielleicht besteht in Dörfern eher Anlass zur Mäßigung. Vielleicht gebietet in kleinen Städten, abgelegenen Ortschaften gelegentlich politisches Kalkül, die wahren Absichten der Nationalsozialisten zu verschleiern. Aber in Berlin ist der Fall klar. Die Kolonnen brüllen und grölen auf den Straßen, man muss etwas unternehmen.
    Man muss sich der Flut entgegenstemmen. Man kann nicht tatenlos beiseitestehen, man muss aktiv werden: So sehen es die Harnacks. Mildred hat deswegen ein paar ihrer Studenten eingeladen. Sie sitzen rund um den großen Esstisch, den Mildred mit Plätzchentellern, mit Blumen und Kerzen nett und wohnlich gemacht hat. Mildred hofft weiterhin auf das Beste. Sie trifft sich regelmäßig privat mit ihren Studenten, wie es in Amerika üblich ist. Sie empfiehlt ihnen Bücher, dann geht man im Tiergarten spazieren und spricht über das Gelesene: über Emerson oder Kipling oder über Walt Whitman, es verrät viel über einen Menschen, wie er auf ein Gedicht oder eine Erzählung oder einen Film reagiert. Und wenn Mildred zu dem Schluss kommt, einen brauchbaren Menschen vor sich zu haben, dann stellt sie ihn ihrem Arvid vor. Heute zum Beispiel dreht sich das Gespräch um einen Film, der in Frankreich wegen Deutschfreundlichkeit zensiert, in Deutschland wegen Deutschfeindlichkeit verboten worden ist.
    »Es ist doch klar. Der Film ist eine Absage an den Nationalismus. Die Helden definieren sich nicht über ihre Nationalität,sondern über ihre Menschlichkeit. Über ihre Klassenzugehörigkeit. Der Film zeigt, worum es geht. Wir müssen den Nationalismus überwinden.«
    »Gar keine Frage. Die Industriebarone sind uns darin längst voraus. Die denken längst nicht mehr national. Den Herren ist nichts so schnuppe wie ihr Vaterland. Sie verachten jeden, der so primitiv ist, noch an dem Landstrich zu hängen, auf dem er lebt. Sie lieben nur den, dem sie etwas verkaufen können. Selbst wenn es Waffen sind, die sich gegen ihre eigene Heimat richten.«
    »Sie ruinieren die Länder, in denen sie hausen. Und wenn sie dann ihre Konten ins Ausland schieben, was sagen sie dann? Schuld sind die Gewerkschaften. Schuld ist der Arbeiter, mit seinen überzogenen Forderungen.«
    »Die Interessen der Arbeiter sind überall dieselben. Nationalismus und Sozialismus sind deshalb unvereinbar.«
    Arvid hat bis jetzt geschwiegen. Nun richtet er sich auf.
    »Ich stimme nicht zu«, sagt er. »Ich meinerseits gedenke jedenfalls nicht, die Vaterlandsliebe kampflos dem

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