Wer wir sind
Gendarmenmarkt, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Regierung und die paritätische Verteilung leichter bis mittelschwerer Prellungen: Alexander Hirschfeld und Klaus Mehnert nehmen zusammen Privatstunden in Jiu-Jitsu.
Mildred gehört nicht zur Arplan. Aber Arvid berichtet ihr von den Sitzungen.
Mildred hat alle Bücher über das neue Russland gelesen. Sie und Arvid haben alle Filme gesehen: Eisensteins ›Panzerkreuzer Potemkin‹, ›Oktober‹, ›Die Mutter‹, ›Sturm über Asien‹. Sie pilgern regelmäßig in die Berliner Vororte, in die schmuddligen kleinen Kinos, wo diese Filme laufen, ›Erde‹ hat Mildred sogar zweimal gesehen, und sie hat beide Male geweint.
Die Sowjetunion ist der Schauplatz eines außerordentlich wichtigen Experiments, bei dem es um Nächstenliebe geht. Russland ist das einzige Land, das sich bemüht, allen Arbeit und Brot zu geben und alle Menschen gleich zu behandeln.
Das hat Mildred ihrer Mutter geschrieben.
Daran hat Mildred auch während der Reise immer gedacht. Im Sommer 1932 ist die Arplan nach Russland gefahren. Mildred konnte leider nicht mitkommen. Sie musste zu der Zeit gerade ihre neue Stelle antreten: Mildred unterrichtet jetzt am Berliner Abendgymnasium, einer auf den Ideen der Volkshochschulbewegung beruhenden Anstalt für Erwachsenenbildung, die es vor allem Arbeitern ermöglichen will, das Abitur abzulegen. Also ist Mildred allein in die Sowjetunion gefahren. Sie hat sich einer Gruppe von Arbeitern angeschlossen, die mit Intourist reisten, dem offiziellen russischen Reiseveranstalter, und war das nicht noch viel passender?
Es ist außerdem gut für eine Frau, hin und wieder allein zu planen und nicht alles ihrem Mann zu überlassen. Mildredglaubt an die Gleichrangigkeit von Mann und Frau. Sie glaubt an die Freiheit, an die Völkerverständigung. Sie glaubt an die Möglichkeit, einander über alle Grenzen hinweg zu verstehen und zu achten. Lebt sie nicht selbst auf einem fremden Kontinent? Sie glaubt an die Planwirtschaft, genau wie Arvid. Sie glaubt an die Sowjetunion. Mildred hat sich auch auf der Reise fest an ihren Glauben gehalten. Sie hat sich ganz fest daran geklammert, wenn der Anblick der abgemagerten Gestalten an den Bahnhöfen der Ukraine sie entsetzte: Frauen, die ihre Kinder unter Klagelauten den westlichen Gesichtern hinter den Zugfenstern entgegenstreckten, Kleinkinder, deren Köpfe haltlos auf den Hälsen schwankten wie auf Blumenstielen, was war dies denn, etwa eine Hungersnot?
Aber nein. Die russischen Reisebegleiter der Intourist erklärten es gern ihren deutschen Gästen. Die Jammergestalten vor den Fenstern hatten sich ihr Elend einzig und allein selbst zuzuschreiben. Es waren allesamt Großbauern gewesen, Großgrundbesitzer, die man enteignet hatte, um ihr Land gerecht zu verteilen, und nun weigerten sie sich stur, am Aufbau des neuen Staates mitzuwirken, Mildred war dankbar für die Erklärungen. Sie sah nun klarer.
Sie verstand: Alles Schlechte war ein Erbe der Vergangenheit. Alles Gute war die Saat der Zukunft, die nur noch aufgehen musste, unter den Zaren war es den Leuten doch viel schlechter gegangen. Nun brauchte man freilich noch etwas Zeit, um endgültig aufzuholen.
Und wie freundlich die Leute waren. Mildred war begeistert von der russischen Mentalität. Sie war begeistert von den Kulturschätzen. In Moskau herrschte überall auf den Straßen lebhaftes und geschäftiges Treiben. Leningrad erstrahlte unter wolkenreinem Augusthimmel: die Stadt der Oktoberrevolution und der Dichter, überall sah man Mildred offen ins Gesicht.Überall war man hilfsbereit, wenn sie einen der kleinen Zettel vorwies, auf die sie die Namen aller Sehenswürdigkeiten geschrieben hatte, mit kyrillischen Buchstaben, um die Einheimischen nach dem Weg fragen zu können.
Roter Platz – Красная Площадь
Puschkin-Museum – Новый сайт музея изобразительных искусств им. А. С. Пушкина
»Es war eine großartige Reise«, sagt Mildred zu Boris Winogradow von der Presseabteilung der sowjetischen Vertretung in Berlin. »Es sind großartige Erfolge zu verzeichnen, auf die Ihr Land wirklich stolz sein kann.«
Die Harnacks sind anlässlich des fünfzehnten Jahrestages der Oktoberrevolution am 7. November 1932 zu einem großen Empfang in die russische Botschaft geladen. Die Unter den Linden vorgefahrenen Wagen reihen sich bis zum Brandenburger Tor. Drinnen drängt sich eng das illustre Publikum, inmitten
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