Wer wir sind
Bügel.
Darum sollt ihr das Land nicht verkaufen für immer. Denn das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge und Gäste bei mir.
Arvid lächelt. Der Effekt ist erstaunlich. Sein etwas trockenes Bürokratengesicht belebt sich augenblicklich. Seine Züge werden warm und hell, wie unter einer plötzlichen Aprilsonne.
»Das würde meiner Frau gefallen«, sagt er.
Mildred Fish-Harnack, die Amerikanerin. Ernst sieht sich nach ihr um. Mildred begleitet soeben ihre Schwiegermutter und ihren jungen Schwager Falk an ihre Plätze in der Saalmitte. Wie immer wenden sich Köpfe, folgen ihr Blicke. Mildred ist groß, von eleganter Haltung. Sie ist auffallend, wie eine Schauspielerin: Sie trägt altmodische Kleider, die ihr wunderbar stehen, sie steckt ihr leuchtend blondes Haar zu altmodischen Frisuren hoch, sie scheint sich ihrer Anziehungskraft aber gar nicht bewusst zu sein. Wahrscheinlich ist es nur Geldmangel. Wahrscheinlich versucht Mildred einfach, das Beste zu machen aus den bescheidenen Verhältnissen, in denen sie und Arvid leben.
»Ach, lieber Ernst. Was lässt sich sagen?«
Vetter Just ist herangetreten, Justus Delbrück.
»Es ist so schmerzlich, wenn man den Vater verliert, egal in welch hohem Alter er war. Ja, aber nun sind sie fort. Nun sind sie beide gegangen, unsere großen alten Herren.«
Diese beiden Musterexemplare ihrer Generation: großbürgerlich, demokratisch, unbedingte Patriarchen und schamlose Verfechter eines aufgeklärten Nepotismus.
»Das Ende einer Epoche. Es ist das Ende einer Epoche.«
»Dennoch, es macht mich froh, dass wir heute gerade hier zusammengekommen sind«, sagt Dietrich Bonhoeffer.
Er ist an Justs Seite getreten und hat Ernsts Hand ergriffen, durchaus mit Ehrerbietung gegen den älteren. Er gehört zu den Rednern der heutigen Feier, als Vertreter der jüngsten Generation ehemaliger Schüler Adolf von Harnacks.
»Hier im Harnack-Haus in Dahlem«, sagt Dietrich. »Es macht mich froh, lieber Ernst, dass dein Vater die Eröffnung dieses Hauses letztes Jahr noch miterleben konnte. Wie war es ihm doch befriedigend. Wie hat es sein Streben der letztenJahre gekrönt, dass es ihm gelungen ist, in Berlin diese internationale Begegnungsstätte der Forschung geschaffen zu haben.«
Das ist allerdings wahr. Fast muss Ernst lächeln. Inzwischen haben die meisten Trauergäste Platz genommen.
Röcke rauschen, hier und da räuspert sich jemand. Allmählich wird es still. Das Streichquartett spielt das Adagio aus Haydns ›Quartett in g-Moll‹. Dann tritt der erste Redner ans Pult: Friedrich Schmitt-Ott, Präsident der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft. Emmi Delbrück, die neben ihrem Verlobten Klaus Bonhoeffer sitzt, ist entschlossen, sich ganz auf die Reden zu konzentrieren.
Es ist aber schwer. Der Tag ist so wunderschön, die Sonne so golden. Emmi versucht an den Onkel zu denken. Sie sieht ihn im Garten des Harnackschen Hauses, mit seinen Bocciakugeln, umwimmelt von Kindern und Enkeln, Freunden und Verwandten.
Emmi, mein Kind. Ich werde dir was sagen. Wenn du mal nicht weißt, was du machen sollst, dann mach das, worauf du weniger Lust hast. Das ist fast immer das Richtige.
Emmi und Klaus werden am 3. September heiraten. Klaus hat ein wenig gedrängt. Er hat behauptet, er hätte sich gleich bei der allerersten Begegnung in Emmis Gang verliebt. In ihren Gang? In das Getrommel ihrer elfjährigen Füße allenfalls, auf der Straße vor dem Delbrückschen Haus, wo die Delbrück-Kinder mit Hans von Dohnanyi Schlagball spielten. Aber Klaus besteht darauf, er würde nun schon seit über zehn Jahren auf Emmi und das Eheglück warten, und allmählich verlöre er die Geduld. Es ging aber gar nicht schneller.
Klaus hat ja gerade erst seine Anwaltskanzlei eröffnet. Für Mietzahlungen fehlt ihnen vorerst das Geld. Sie werden deshalbbei den Bonhoeffers in der Wangenheimstraße wohnen. Natürlich wird das nicht einfach sein. Es wird Emmi nicht leicht werden, sich als Frischvermählte laufend die Ratschläge der Schwiegermutter und der langverheirateten Schwägerinnen gefallen zu lassen, ein Stoß lauer Luft weht durchs Fenster herein.
Emmis Herz dehnt sich, entfaltet die Flügel. Dieser Duft, diese köstliche Wärme, das blaugoldene Licht dieses wunderbar heiteren Raums! Und Klaus ist jedenfalls ein ganzer Kerl. Er ist ein Mann von Kraft, Geschmack und Humor, großzügig, weltläufig, mit warmen Händen und einem schönen Mund. Emmi schiebt heimlich ihre Hand unter Klaus’ Arm.
Klaus
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