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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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Ernst schüttelt den Kopf.
    Es klopft. Änne bringt den Tee. Sie verteilt Tassen, schenkt ein. Das Gespräch wendet sich anderen Dingen zu.
    »Wir haben ja gestern in der Philharmonie Mozarts ›Streichquintett g-Moll‹ und im Anschluss Bruckners ›Streichquintett F-Dur‹ gehört. Eine sehr interessante Gegenüberstellung.«
    Die Türglocke schellt.
    »Das wird Mildred sein.«
    Im Flur erklingt aber die Stimme einer fremden Frau. Ernst hört Änne sagen: »Warten Sie. So warten Sie doch einen Moment, ich hole meinen Mann.«
    Ernst ist schon an der Tür.
    Ihm gegenüber steht eine junge Frau, der Blick wild, das Gesicht weiß. Es ist Stellings Tochter.
    »Mein Vater ist gefunden.«
    »Frau Koß. Kommen Sie doch herein.«
    »Mein Vater ist gefunden. In einem Sack.«
    »Was?«
    »In einem Sack in der Dahme. Nahe der Grünauer Fähre.«
    »Um Himmels willen.«
    »Ein mit Steinen beschwerter Sack.«
    »Und Sie sind sicher, dass es Ihr Herr Vater war.«
    »Er hat kein Gesicht mehr. Aber seinen Trauring. Und er hatte zwei Taschentücher in der Hose, mit seinem Monogramm. Sie waren voll Blut. Mein Vater hat tagelang in einem Sack im Fluss gelegen. Aber die Taschentücher waren voll Blut.«
    Als seine Besucher wieder gegangen sind, sitzt Ernst lange an seinem Schreibtisch. Er denkt nach. Oder er betet. Er könnte es nicht sagen. Er versucht, ein Stück tragfähige Erde zu finden, einen Meter Boden, auf dem man stehen kann, es ist nicht einfach. Berlin ist porös geworden, brüchig. Die Wirklichkeit ist brüchig. Die Risse sind überall. Es scheint aber keiner zu bemerken. Die Leute gehen ihren Beschäftigungen nach, als wäre alles normal, als täten sich nicht überall vor ihnen, zwischen ihnen Abgründe auf, Schlünde zu unwirklichen Orten, zu Höllenkellern, in die kein Gesetz und kein Licht hinabreichen, Arvid hat recht. Man muss an die Wurzeln gehen. Man muss das Ausland informieren, die Parteigenossen im Ausland. Man braucht Daten. Man braucht Fakten. Ernst von Harnack wird einen Fragebogen entwerfen. Er wird ihn vertrauenswürdigen Parteifreunden zuschicken, Genossen vom Bund religiöser Sozialisten.
    Wo sind Schutzhäftlinge in Ihrer Gegend untergebracht?
    Wie heißen die betreffenden Konzentrationslager und Gefängnisse?
    Belegungsstärke?
    Aufgliederung der Häftlinge nach Geschlecht, Konfession und politischen Parteien?
    Ernst wird Informationen sammeln. Diese Informationen wird er an das Züricher Büro der religiös-sozialistischen Internationale weiterleiten. Und die werden das Ihre tun. Ernst ist zuversichtlich. Wenn erst im Ausland Berichte über die deutschen Verhältnisse bekannt werden, wird ein Sturm losbrechen. Man wird ihnen helfen. Das Ausland wird handeln. Die Welt wird dieses Unrecht nicht dulden.
    Am 13. Juli wird Ernst von Harnack im Urlaub am Bodensee in Schutzhaft genommen. Er kommt schon Ende des Monats wieder frei, ist aber gehalten, sich in den nächsten Monaten regelmäßig bei der Polizei zu melden. Er erzählt ganz heiter, dass der Gefängnishof in Überlingen als ein recht hübsches Gärtlein angelegt war. Er berichtet von seinen Bemühungen auf dem Holzplatz, wohin er sich freiwillig zur Arbeit gemeldet hatte, von den interessanten und Respekt gebietenden Begegnungen mit den Stammgästen des Etablissements: Vagabunden und Arbeitslosen zumeist, viele von ihnen geübte Handwerker, bärenstarke Holzfäller.
    Aber war es denn nicht fürchterlich, in der Haft?
    Das Heitre will ich sagen,
    Das Schwere will ich tragen.
    Ernst liebt seine Zweizeiler. Allerdings ist ein süddeutsches Provinzgefängnis im Sommer 1933 auch wirklich kein wildes Berliner Konzentrationslager. Man hat Ernst von Harnack leidlich gut behandelt. Was hat man ihm überhaupt vorgeworfen,diesem milden Mann? Er weiß es nicht. Er erfährt den Grund seiner Verhaftung so wenig wie den Anlass seiner Entlassung. Gründe werden vielleicht nicht mehr benötigt. Es genügen nun Ursachen.
    »Hans ist verhaftet worden.«
    Es ist der 14. November 1933. Marie steht in Adam Kuckhoffs Wohnzimmer: Marie Otto, geschiedene Kuckhoff.
    »Hans ist in dem kleinen Gasthaus am Viktoria-Luise-Platz von der SA verhaftet worden.«
    Marie hat ihren Mantel nicht abgelegt. Sie hat die Hände gefaltet, als betete sie. Adam tritt zu ihr und umfasst ihre Hände.
    »Was werden sie mit ihm tun, Adam? Was werden sie mit ihm tun?«
    Die ersten Misshandlungen erfolgen im Café Komet in Stralau-Rummelsburg. Man hält sich hier nicht mit Finessen auf. Es gibt

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