Wer wir sind
keine Nadeln unter die Nägel, keine Wadenklammern: Dies ist die Zeit der wilden KZs, unter Führung der SA. Hier wird frisch und geradeheraus drauflosgeprügelt, mit Gummiknüppeln, Eisenstangen, nackten Fäusten. Anschließend wird der Verletzte nach Köpenick transportiert. Er wird zu anderen Häftlingen in eine Sammelzelle gesperrt. An manchen, die dort liegen, kann Hans Otto sehen, was die Zukunft für ihn bereithält. Diese Zukunft beginnt kurz darauf mit einem weiteren Verhör. Sie setzt sich in einem SA-Quartier in der Möllendorffstraße fort. Dann schleppt man Hans Otto zum Geheimen Staatspolizeiamt, das im Mai in das Gebäude der ehemaligen Kunstgewerbeschule in der Prinz-Albrecht-Straße 8 eingezogen ist. Letzte Station ist die SA-Kaserne in der Voßstraße.
»Das ist hin«, sagt Obersturmführer Maier. Er tippt das zusammengekrümmte Bündel zu seinen Füßen leicht mit derStiefelspitze an. »Selbst wenn das noch mal wach würde. Reden kann man halt nicht ohne Fresse.«
Der Obersturmführer kickt den Bewusstlosen noch einmal, diesmal etwas härter. Der alte Freikorpskämpfer Maier: Er hat in Oberschlesien gekämpft. Er hasst die Polen, die Juden, die Kommunisten. Er glaubt mit ganzem Herzen an die Notwendigkeit der rassischen Neuordnung Europas: Dies ist eine heroische Epoche, und die Deutschen müssen sich ihr gewachsen zeigen als ein heroisches Volk. Der Obersturmführer ist kein Träumer und Romantiker. Er ist ein knallharter Realist. Er bejaht die Wirklichkeit. Er ist bereit, die weichlichen Schwärmer mit Stumpf und Stiel auszurotten, die mit ihren Humanitätsduseleien und ihren absurden Fantastereien von ewigem Weltfrieden nur die Kampfkraft des Volkes schwächen. Es gibt keine allgemein gültigen Menschheitsziele. Es gibt nur den Widerstreit der Interessen. Es gibt nur den immerwährenden Kampf, der ebenso wie der Krieg Teil der Natur ist. Der Obersturmführer starrt auf das Bündel vor sich.
»Immerhin ein bekannter Name«, sagt er. »Also. Was macht man nun damit?«
»Wieso schmeißen wir ihn nicht einfach aus dem Fenster.«
»Wie.«
»Da. Aus dem Fenster. Ist doch alles klar. Der Schauspieler Hans Otto hat versucht, sich der Befragung durch Selbstmord zu entziehen.«
Adam Kuckhoff steht mit seinen beiden Ehefrauen an Hans Ottos Krankenhausbett. Die Schwestern Marie und Gertrud weinen. Adam weint nicht. Er glaubt nur nicht, dass er je wieder lachen wird. Er würde den sterbenden Freund gern berühren, aber er findet keine Stelle, die heil genug wäre. Er versucht sich an das helle, offene Gesicht des jugendlichen Helden undLiebhabers zu erinnern, der den Ferdinand, den Egmont, den Prinzen von Homburg gespielt hat, aber es will ihm nicht gelingen, was schuldet er dem Sterbenden? Welches Maß an Mut, an heldenhafter Güte, welche Art von Auferstehung fordert dieses Martyrium?
Hans Otto stirbt am 24. November. Marie ist es verboten, seinen Tod bekanntzugeben. Der Öffentlichkeit ist die Teilnahme am Begräbnis auf dem Wilmersdorfer Waldfriedhof Stahnsdorf untersagt. Gustaf Gründgens ist danach zu Marie Otto gekommen, heimlich.
»Gnädige Frau. Ich wollte Ihnen meine Hilfe anbieten.«
Marie schüttelt den Kopf. Sie antwortet nicht. Sie kann nicht, weil sie weint.
»Verzeihen Sie«, sagt Gustaf Gründgens. »Aber Hans war zuletzt arbeitslos. Sie müssen finanziell wirklich knapp sein. Ich wäre geehrt, wenn ich die Kosten der Bestattung tragen dürfte. Nein, wirklich, ich bitte darum.«
Marie antwortet noch immer nicht. Gustaf Gründgens hat ein Bild Hans Ottos in die Hand genommen, das auf dem Wohnzimmerbüfett steht.
»Wie sie ihn fürchten müssen«, sagt er. »Wie sie ihn fürchten müssen, dass sie ihn noch als Toten fürchten.«
Arvid ist gezwungen, seinen Lebensplan zu revidieren. Er hat sich habilitiert, aber die Universität Marburg hat ihn nicht angenommen und auch keine andere Hochschule. Arvid hat eine Weile als juristischer Assistent bei der Lufthansa gearbeitet, wo Emmi Bonhoeffers Mann Klaus inzwischen Syndikus ist. Nun bereitet er sich in Jena am Gericht auf seine Assessorenprüfung vor.
Er wird kein Professor werden, das steht fest. Aber er wird dennoch lernen und lehren. Er wird seine denkerische Kraft,seine Überlegungen, seine theoretischen Studien nun eben auf seine privaten Untersuchungen konzentrieren. Er wird seine Forschungsergebnisse in einem ausgewählten Kreis Eingeweihter diskutieren, Referate und Schulungsmaterial für Lernwillige vorbereiten.
Allons!
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