Wer wir sind
Bedürfnisse des Mittelstandes? Ernst war preußischer Regierungspräsident, er und seine Änne haben im Merseburger Schloss gewohnt. Aber beim Preußenschlag am 20. Juli 1932 hat Ernst von Harnack sein Amt verloren, ebenso wie sein Parteifreund, der Kultusminister Adolf Grimme, und alle anderen Mitglieder der preußischen Regierung. Die von Harnacks haben die meisten ihrer Besitztümer verkauft oder verschenkt. Der liebevoll gesammelte Hausrat war ja im neuen Domizil gar nicht unterzubringen. Aber Ernst war entschlossen, sich eine Stimmung heiterer Zuversicht zu bewahren. Er hat für seine Änne gereimt,
Was sich schickt im Palast,
wird in der Hütte Ballast.
Inzwischen haben sie sich in dem kleinen Haus im Fischtalgrund sehr gut eingelebt. Ernst und Arvid sitzen in Ernst von Harnacks Arbeitszimmer.
»Mein lieber Vetter«, sagt Ernst. »Ich weiß, was du meinst. Man hatte sich Wirkungsmöglichkeiten erträumt, man wollte mitgestalten, und nun sieht man alle Möglichkeiten verbaut. Es ist bitter. Ich denke aber, man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Ich schreibe ja nun dieses Buch über die Praxis der öffentlichen Verwaltung. Vielleicht wird man mich doch wieder einstellen. Ich blicke immerhin zurück auf sechzehn Jahre praktische Erfahrung. Das ist doch nicht vom Tisch zu wischen. Sechzehn Jahre im Dienst des Staates. Und es waren nicht einmal die Nationalsozialisten, die mich aus dem Amt geworfen haben. Papen war es, und was hat er davon gehabt?«
Herrscher dünkte sich im Reich er,
doch schon schlich heran der Schleicher.
Ernst liebt seine Gelegenheitsdichtungen. Er versucht guten Mutes zu bleiben, auch wenn er nicht weiß, wie er seine Familie ernähren soll. Er wirkt allerdings ein wenig überanstrengt. Er war nie von kräftiger Konstitution, jedenfalls nicht mehr nach seiner schweren nervlichen Erkrankung in den Schützengräben des Weltkriegs.
»Ich denke, es wird den Nazis nicht anders gehen als den letzten Regierungen«, sagt Ernst. »Sie werden sich nicht lange halten. Sie werden über das Arbeitslosenproblem stürzen, wie alle anderen. Und bis dahin muss man eben die Wege beschreiten, die einem noch offenstehen. Es lässt sich auch ohne persönliche Stellung noch einiges ausrichten. Gestern war ich zufällig in Lichterfelde bei Pastor Hans Francke aus dem Vorstand des Bundes religiöser Sozialisten, als ein Rollkommando von SA-Hilfspolizisten kam, um ihn festzunehmen. Er hatte wohl zu offen von seiner ersten Haftzeit gesprochen. Nun wollte man ihn noch einmal holen. Der arme Mann ist völlig außer sich geraten. Er ist über sechzig und herzkrank. Ich habe also darauf bestanden, ihn zu begleiten, und tatsächlich hat der Sturmführer in der Hedemannstraße ihn mir schließlich wieder mitgegeben. So sind die Dinge jetzt. Diese neuen Leute tun, was sie wollen. Sie halten sich an keine Regeln, sie interessieren sich nicht für Gesetze. Wenn sie jemanden mitnehmen wollen, dann tun sie das. Aber man kann sie manchmal auch dazu bewegen, ihn ohne viel Umstände wieder herauszugeben.«
»Schön und gut«, sagt Arvid. »Aber für jeden, den du rettest, sperren sie zehn andere ein. Und ich glaube nicht, dass wir sie so schnell loswerden. Man muss das Unrecht an der Wurzel packen. Dann darf man sich aber nicht unnötig exponieren.Man muss möglichst unsichtbar werden, auch wenn das manche gute Tat ausschließt.«
»Das Unrecht an der Wurzel packen«, sagt Ernst. »Was stellst du dir vor, einen Staatsstreich? Man muss diese schwere Zeit überstehen. Und bis es vorbei ist, haben wir die Pflicht, so viel Elend wie möglich zu verhüten. Im Moment suche ich nach Johannes Stelling. Er ist in der Nacht vom 21. zum 22. Juni verhaftet worden.«
In jener Nacht hat der junge Arbeiter Anton Schmaus sich gegen seine Verhaftung in der Kleingarten-Kolonie Elsengrund am S-Bahnhof Köpenick gewehrt und dabei drei SA-Männer niedergeschossen. Daraufhin ist die SA ausgeschwärmt. Kommunisten, Sozialdemokraten und Mitglieder der Deutschnationalen Volkspartei sind unterschiedslos verschleppt und gefoltert worden, im Amtsgerichtsgefängnis an der Puchanstraße, im Wassersportheim in der Wendenschlossstraße, in Köpenicker Gaststätten und Bootshäusern. Johannes Stelling war Ministerpräsident von Mecklenburg-Schwerin. Er hat im Reichstag gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt. Aber danach ist er dem SPD-Parteivorstand nicht nach Prag ins Exil gefolgt.
»Hätte er es getan! Aber freilich, das sagt sich so leicht.«
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