Wer wir sind
bürgerlichen Parteien, die Plutokratien, das Kapital. Die Modelle der Vergangenheit halten keine Lösung bereit. Nicht rückwärts-, vorwärtsgewandt muss man die Zukunft gestalten. Man muss den Nationalsozialismus geistig überwinden, man muss für eine neue Zeit planen.
Mildred schreibt an ihre Mutter,
Mach Dir bitte keine Sorgen, Mama. Wir tun ja nichts. Wir sind nur ein paar Studenten, die in einer Ecke der Welt sitzen und sich unterhalten.
Sie sagt sich das selbst, zu ihrer Beruhigung. Aber sie ist nicht ruhig. Auf Mildred hat sich eine schwere Last gesenkt. Die neue große Wohnung in der Hasenheide 33 ist schön und sehr hell, mit heiteren modernen Wänden in Hellblau und Hellgelb. Aber Mildred empfindet es nicht, dass dies eine stille Ecke der Welt ist. Mildred befindet sich im Zentrum: Direkt an das Haus, in dem sie wohnt, grenzt der große Park, nach dem die Straße benannt ist, und gegenüber, auf der anderen Seite der Hasenheide, liegt das gefürchtete Columbia-Haus. DieLastwagen rumpeln den ganzen Tag an Mildreds Wohnung vorüber. Den ganzen Tag lang liefern sie neue Opfer an. Mildred kann nicht mehr arbeiten. Sie kann nicht lesen, sie kann nicht schreiben, sie muss jedes Mal aufstehen und ans Fenster treten und durch die Vorhänge nach den Lastwagen spähen. Sie murmelt vor sich hin,
Wieder einer
Noch einer
Auch John Sieg soll im Columbia-Haus inhaftiert sein, der Freund Adam Kuckhoffs und Arvid Harnacks, der Pendler zwischen den Welten, Sohn einer deutsch-amerikanischen Ehe. In den USA hat John Sieg an Henry Fords Fließbändern gestanden und von Deutschland geschwärmt. Nach Deutschland zurückgekehrt, hat er als KPD-Mitglied und freier Autor für die ›Rote Fahne‹ geschrieben und dennoch immer wieder Amerika verteidigt, das zupackende amerikanische Wesen, den Optimismus, den Lebensmut der Amerikaner, den er auch sich selbst zugute hält, im März 1933 hat ihn die SA abgeholt. In einem der Lastwagen, die an der Wohnung der Harnacks vorüberrumpeln, ist John Sieg ins Columbia-Haus gebracht worden.
Mildred steht am Fenster. Die Lastwagen rumpeln. Das Lager müsste längst voll sein. Es müsste längst überlaufen, aus allen Nähten platzen, bersten wie eine Eiterbeule und mit seinen widerwärtigen Giftstoffen das ganze Reich verpesten, alle Lebensbereiche infizieren und ganz Deutschland in ein Lager verwandeln. Aber die Lastwagen karren immer weiter ihre Opfer heran.
»Du solltest vielleicht doch Max Reinhardts Angebot annehmen«, sagt Adam Kuckhoff besorgt zu seinem Schwager Hans Otto.
Die ›Faust-II‹-Inszenierung am Staatstheater ist ein Triumph. Gustaf Gründgens wird als Mephisto gefeiert, Hans Otto als Kaiser. Dennoch hat Hans Otto heute zum letzten Mal auf der Bühne gestanden. Der neue Intendant hat ihn aus politischen Gründen entlassen.
»Du solltest vielleicht doch zu Reinhardt nach Wien gehen«, sagt Adam Kuckhoff zu seinem Schwager. »Du gefährdest dich in Berlin, Hans.«
»Und Marie und Gerd?«, sagt Hans Otto. »Ich könnte sie doch nicht einfach hier zurücklassen. Und mitnehmen könnte ich sie auch nicht. Ich würde dich dann ja von deinem Sohn trennen. Nun, das sind freilich nur private Sachen. Aber denk an die vielen, die nicht gehen können. Wäre es fair, sie einfach im Stich zu lassen?«
Sie schweigen eine Weile.
»Was haben denn die Kollegen zu deiner Entlassung gesagt?«, sagt Adam dann.
»Was sollen sie gesagt haben. Gründgens hat die Sache bedauert. Er hat sogar offen protestiert, aber natürlich ändert das nichts, er ist auch nicht der Mann, der für andere etwas riskieren würde. Dazu nimmt er andere Menschen nicht ernst genug. Es ist ihm schlicht nicht bewusst, dass sie ebenso sehr auf der Welt sind wie er selbst, ebenso Mittelpunkt ihrer Geschichte. Und siehst du, Adam, darum ist er ein sehr einsamer Mann. Er ist einsam, dabei lieben ihn so viele.«
Arvid ist zu Besuch bei seinem Vetter, dem Parteifreund Adolf Grimmes und religiösen Sozialisten Ernst von Harnack. Ernst, Änne und die Kinder wohnen seit dem Herbst letzten Jahres in einem kleinen Haus in der Siedlung am Fischtalgrund, die vor fünf Jahren von der Gemeinnützigen Aktiengesellschaft für Angestellten-Heimstätten erbaut worden ist, unter Mitwirkungder Reichsforschungsgesellschaft. Offizielles Ziel war es, mit verkleinerten Baukörpern die Zins- und Mietbelastung der Bewohner in Grenzen zu halten und dabei dennoch die kulturellen Bedürfnisse des Mittelstandes zu wahren. Kulturelle
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