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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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Kontakt zu den ausländischen Vertretern der Wirtschaft zu halten, zu Sergej Bessonow von der russischen Handelsvertretung zum Beispiel, dem Freund aus den altenZeiten der Arplan. Arvid gibt nun also Informationen zur deutschen Währungs- und Wirtschaftspolitik, zu geheimen Handelsabkommen, zum Ausmaß deutscher Investitionen im Ausland an die Sowjetunion weiter.
    Es kann natürlich nicht die Rede davon sein, dass Arvid sein Land verrät. Alles, was den bestehenden Staat schwächt und von innen aushöhlt, dient den wahren Interessen Deutschlands. Die Nazis werden irgendwann wieder verschwinden, und als Patriot muss man dazu beitragen, dass das Regime möglichst bald kollabiert.
    »Ich sehe Deutschland als zukünftigen Mittler zwischen West und Ost«, sagt Arvid zu Mildred. »Ich stelle mir einen Staat vor, der planwirtschaftlich organisiert ist, ansonsten aber ein Höchstmaß an individueller Freiheit bietet. Das heißt, wir müssen unsere Kontakte zu den Russen pflegen, ebenso wie die zu den Amerikanern. Wir müssen uns im Ausland der Hilfe aller Willigen versichern.«
    So sieht es auch Mildred.
    Mildred steht an Arvids Seite, felsenfest. Genauso fest, genauso einig mit ihm, wie sie in der Nacht vom 22. auf den 23. August 1927 vor dem Staatsgefängnis von Charlestown, Massachusetts an seiner Seite gestanden hat, inmitten der unübersehbaren schweigenden Menschenmenge, unablässig umkreist von schwerbewaffneten Polizisten zu Pferde, sie alle sahen hinauf zum Turm. Um Mitternacht begann dort das Licht zu flackern. An, aus, an, aus. Jedes Verlöschen bedeutete einen Stromstoß, der durch den gepeinigten Körper Saccos, dann durch den Körper Vanzettis gejagt wurde: So hatte man es angekündigt. Was war das Verbrechen der beiden Männer gewesen? Sie waren Italiener. Sie waren Ausländer und Anarchisten: tickende Zeitbomben, Staatsfeinde, zukünftige Terroristen, auch wenn sie bis jetzt noch nichts Wesentlichesverbrochen hatten, so dass man ihnen einen Raubmord in die Schuhe hatte schieben müssen, um sie legal ermorden zu können. Hunderttausende säumten die Straßen, als der Trauerzug mit den Leichen zum Friedhof zog. Mildred stand neben Arvid am Straßenrand. Sie sah Arvid weinen. Sie weinte selbst, voll Trauer und Zorn. Überall wurden Flublätter verteilt, auf denen Auszüge aus Vanzettis Autobiografie und aus seiner Abschiedsrede nach der Urteilsverkündung durch Richter Thayer zu lesen waren.
    Wir haben bewiesen, dass es auf der ganzen Erde keinen Richter geben kann, der voreingenommener und grausamer ist, als Sie gegen uns gewesen sind. Ich habe nicht nur kein Verbrechen begangen, sondern das Verbrechen bekämpft, das die offizielle Moral und das offizielle Gesetz billigen und heiligen: die Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. Ich suchte meine Freiheit in der Freiheit aller, mein Glück im Glück aller. Wenn es einen Grund gibt, warum Sie mich in wenigen Minuten vernichten können, dann ist dies der Grund und kein anderer.
    Mildred besitzt das Flugblatt noch immer. Sie hat es aufbewahrt. Sie sagt sich manchmal etwas daraus vor.
    Ich bin überzeugt, dass ich im Recht bin. Und wenn Sie mich zweimal hinrichten könnten, und wenn ich zwei weitere Male geboren werden könnte, dann würde ich wieder das tun, was ich getan habe.
    Darum geht es. Das ist das Wichtigste: die Flamme nicht erlöschen zu lassen, den Mächten der Finsternis die Seelen der Unschuldigen nicht kampflos zu überlassen. Mildred steht an Arvids Seite, das ist nicht die Frage.
    Die Frage ist, wie lange dies noch gehen wird. Wie lange wird das tausendjährige Reich noch währen? Die Stiefel marschieren,die SS grölt, sie wohnen nicht mehr in der Hasenheide, sondern in der Genthiner Straße in Tiergarten, die neuerdings Woyrschstraße heißt. Mildred ordnet Weidenkätzchen in einer Vase, Blumen in einem Krug. Sie legt jetzt immer sehr viel Wert darauf, dass ihre Berliner Wohnung aufgeräumt, staublos, fleckenlos rein ist. Sie bringt bunte Steine von einem Spaziergang mit und arrangiert sie auf einem Teller. Sie zündet Kerzen an, auf dem Schränkchen unter dem großen Ölbild, das Arvids Mutter gemalt hat. Das Bild zeigt die Ostsee, die Wanderdünen auf der Kurischen Nehrung. Mildred schiebt die Fotografien auf der Anrichte hin und her, sie legt ein buntes Kissen erst in die linke, dann in die rechte Sofaecke und nimmt es wieder weg, sie sagt sich, dass sie ihre Zeit nicht so nutzlos verplempern sollte.
    Die Zeit verfließt,

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