Wer wir sind
halten? Sie hat an William Ellery Leonard geschrieben, ihren früheren Förderer an der Englischen Abteilung der University of Wisconsin. Sie hat angefragt, ob er ihr helfen könne. Leonard hat abgesagt. Er hat seine Ablehnung äußerst rücksichtsvoll formuliert. Aber er hat abgesagt. Draußen vor den Fenstern fällt der Schnee auf Berlin.
Es ist Mildred, als fiele er im Zimmer. Es ist, als wehte ihr ein kalter Wind ins Gesicht. Ein dünner Jenseitswind, der das Diesseitige auflöst: die Dinge und die Menschen und Mildred selbst, so dass alles transparent wird, durchscheinend und dünn, um schließlich ohne Rest zu verwehen, was wird von ihr bleiben?
Vielleicht ein Artikel, ein Brief, ein Foto. Vielleicht eine Erinnerung. Vielleicht ihre eigene Erinnerung, an die weiten Himmel des Mittleren Westens, an den Klang einer Nuss, die in der Herbststille aufs Laub fällt. Vielleicht weniger. Vielleicht nur ihre Sehnsucht: ein schimmernder Nebelstreif, der noch eine Weile in der Luft hängt, bevor auch er zerfließt und sich auflöst.
I’ll take you home again, Kathleen
Across the ocean wild and wide
To where your heart has ever been –
Und dann fährt Mildred heim. Arvid hat selbst darauf gedrungen. Seine Lippen waren schmal, sein Gesicht blass.
»Fahr ruhig. Nimm dir eine Weile Urlaub von Deutschland. Es wäre ja nicht für immer. Du kannst doch jederzeit zurückkommen. Ich werde mich noch einmal um ein Rockefeller-Stipendium bemühen. Vielleicht klappt es ja. Fahr du schon einmal vor.«
Am Anfang hat sich Mildred gewehrt. Wovon sollte sie denn drüben leben? Die Devisenbestimmungen machen es ja unmöglich, mehr als zehn Reichsmark ins Ausland auszuführen.
»Geh zu deiner Schwester. Geh zu deiner Mutter. Organisiere alles von dort. Lass deine alten Kontakte wieder aufleben. Geh zu deinen alten Lehrern. Versuche, vor Ort Kontakte zu knüpfen. Das ist vielleicht leichter, als wenn du von hier aus Briefe schreibst. Halte eine Vortragsreise.«
Eine Vortragsreise? Das war eine gute Idee. Das war eine Möglichkeit: Mildred würde eine Vortragsreise halten.
Und nun ist es so weit. Sie sind in Bremerhaven an Bord gegangen. Die See ist eisengrau. Mildred und Arvid stehen an der Reling. Hier auf der Meerseite des großen Schiffs ist der Winterwind von beißender Schärfe. Sie stehen nebeneinander, ohne sich zu berühren: Und bereut Mildred ihren Entschluss schon?
Mildred kann nichts empfinden, nicht einmal Kummer. Nicht einmal Vorfreude. Nicht einmal Angst. Sie und Arvid haben kaum miteinander gesprochen, heute Morgen auf dem Weg zum Hafen. Mildreds Gepäck ist bereits unter Deck verstaut. Dies sind die letzten Minuten. Um sie herum brandet der übliche Tumult: Trubel und Geschrei, das unfassbare Durcheinander von Kofferträgern und Passagieren, Abschiednehmenden, Lachenden, Weinenden. Sie reden nicht miteinander. Was gibt es noch zu sagen? Arvid ist sehr froh, dass Mildred endlich geht. Er hat ihr das gestern gesagt, in der Nacht.
»Ich bin froh, dass du dich in Sicherheit bringst. Dass ich dich in Freiheit weiß.«
Sie konnte nicht einmal über diese Worte weinen. Sie hat ihn nur gebeten, sie nicht zu wiederholen. Und es ist ja auch Unsinn: Mildred wird schließlich zurückkommen. Sie verlässt Arvid nicht. Sie besucht ihre Mutter, sie geht auf Vortragsreise. Sie wird in Amerika über die Rezeption amerikanischer Gegenwartsliteratur im heutigen Deutschland sprechen, und dann kehrt sie zu Arvid zurück, die Schiffssirene tutet. Mildred schrickt auf. Sie wendet sich Arvid zu.
»Ich glaube, du musst gehen«, sagt sie.
Sie betrachtet das vertraute Gesicht: der ernste Mund, die geraden Brauen, die etwas kurzsichtigen Augen hinter der runden Brille. Arvid sieht Mildred an. Sie weiß nicht, was er sieht. Dann umarmen sie einander.
»Ich komme zurück«, sagt Mildred. »Ich bin bald wieder da. Ich komme bald zu dir zurück.«
Die Worte fallen ihr von den Lippen wie tote Vögel. Sie sind echolos, wie in einem schalldichten Raum gesprochen, was ist es nur? Sie ist doch auch früher schon ohne ihn gereist. Sie ist immer zu Arvid zurückgekehrt. Sie wird auch diesmal zurückkehren, sie flieht nicht, ein Bild blitzt auf.
Eine Erinnerung. Der Morgen am Picnic Point, Lake Mendota, 1926. Ein Sommermorgen, die Luft lau. Sie waren mit dem Boot herübergekommen. Sie saßen am Strand und blickten übers Wasser: zwei junge Studenten, sie hatten über irgendetwas diskutiert. Sie diskutierten immer über irgendetwas: Politik,
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