Wer wir sind
sie eilt, sie strömt. Wo ist der Sommer hin? Im Sommer ist die Mutter hier gewesen. Mildred hat sich mit der Mutter in London getroffen: Sie haben Ahnenforschung betrieben, damit Mildred endlich den Arierausweis beibringt, den Arvids Ministerium von Arvids Frau verlangt. Und so hat es sich wunderbarerweise herausgestellt, dass Mildred berechtigt ist, ihre Aufnahme bei den Daughters of the American Revolution zu beantragen.
Es hat ihr den Atem verschlagen. Die Organisation ist ungeheuer wählerisch. Unter dem Motto »God, Home, and Country« nimmt sie nur weiße Amerikanerinnen auf, nur hervorragende Patriotinnen, deren Vorfahren nachweisbar bei der Erlangung der amerikanischen Unabhängigkeit mitgewirkt haben.
Mildred hat vor Stolz und Freude geweint, als ihr Antrag angenommen worden ist. Und dann ist sie ein paar Wochen lang schwanger gewesen.
Aber sie hat das Kind verloren.
Sie selbst hat dies getan. Ihr eigener Körper ist verantwortlich: Er hat das Kind nicht behalten. Begonnen hat es mit Schmerzen. Dann kam Übelkeit dazu, fast sofort auch Fieber, und Arvid hat sie in die Klinik gebracht. Es war eine Notoperation.
Es ging ums Leben, mein geliebtes Herz.
Das hat Arvid danach gesagt. Aber um welches Leben ging es? Wo ist das Leben, das in ihr war? Jemand war bei ihr und ist nun fort. Ein Herz hätte an ihrem Herzen geschlagen, unter ihrem Herzen. Etwas Lebendes hätte sich an sie geschmiegt, es ist aber an der falschen Stelle gewesen. So hat sie es verstanden. Wie kann ein Leben an der falschen Stelle beginnen? Mildred hat ihr Leben weitergeben wollen. Sie wollte dies tun: von ihrem Leben schenken, sie ist vermessen gewesen. Solch eine Gabe hat ihr nicht zugestanden. Das Geschenk ist ihr aus den Händen geglitten. Es ist ihr aus den Händen geschlagen worden, mit einem harten Schlag. Es ist zu Boden gefallen und zersprungen. Nun ist es November.
November 1936: noch nicht einmal vier der tausend Jahre sind vergangen, Mildred steht am Fenster.
Sie steht oft lange am Fenster und sieht hinaus. Es schneit, in wattigen Flocken, die grau aus grauen Wolken taumeln: Dies ist kein Schnee, der liegenbleibt.
I’ll take you home again, Kathleen
Across the ocean wild and wide
To where your heart has ever been
Since you were first my bonnie bride –
Die Trauer drückt Mildred die Kehle zu. Was tut sie hier? Womit verbringt sie ihre Lebenszeit? Wie legt sie sie zurück, die kurze Strecke Wegs zwischen dem Eingang in diese Welt und dem Ausgang? Frau Dr. Mildred Harnack-Fish,schon Mitte dreißig und kinderlos: Sie steht morgens auf und bereitet Arvids Frühstück. Sie räumt die Wohnung auf, sie unterrichtet ihre Schüler. Sie arbeitet an einem Artikel. Sie übersetzt eine Rede Roosevelts oder Churchills ins Deutsche, damit Arvid sie in seiner Gruppe analysieren kann. Abends essen sie in der kleinen Gaststätte gegenüber, oder Mildred bereitet eine Kleinigkeit zu, danach sitzen sie beieinander. Sie lehnen sich aneinander. Sie versuchen, wieder zu sich zu finden, nach dem langen Tag draußen in der Welt, sie versuchen zueinander zu finden, bevor der neue Tag beginnt, welcher neue Tag?
Die Sonne wird aufgehen. Die Sonne wird untergehen. Die Tage werden kommen und gehen. Sie werden an Mildred vorüberwandern, gleichförmig und gut gedrillt wie eine Kompanie Soldaten, während die Volksempfänger Goebbels-Reden plärren und SS-Stiefel durchs Treppenhaus trampeln und die Kolonnen auf der Straße ihre Lieder bellen, während Mildred den Müll hinunterträgt und Lebensmittel hinaufträgt und für das Winterhilfswerk spendet und noch einmal zähneknirschend für das Winterhilfswerk spendet, Mildred möchte nach Hause.
Sie möchte amerikanische Luft atmen, amerikanisches Essen essen. Sie möchte durch die Wälder und Berge des Mittleren Westens schweifen, im Boot über seine Seen treiben. Sie möchte amerikanische Stimmen hören. Sie möchte laut und frei amerikanische Gedichte rezitieren,
Let music swell the breeze,
And ring from all the trees
Sweet freedom’s song.
Let mortal tongues awake;
Let all that breathe partake;
Let rocks their silence break –
Sie möchte aufrecht durchs Leben schreiten, frei und heiter und ohne Scheu. Sie möchte mit freien heiteren Menschen sprechen. Sie möchte den Kopf auf die Schulter der Mutter legen, die Augen schließen und schlafen. Und kann Mildred nicht einfach heimfahren?
Kann sie nicht in Amerika Arbeit finden, das Nötigste verdienen, sich irgendwie allein über Wasser
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