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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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Literatur, Kunst, Philosophie. Er wartete auf ihre Antwort. Er hatte etwas gesagt, über Gerechtigkeit oder Freiheit oder Liebe. Etwas Großes, Erhebendes, das sie an ein Gedicht von Walt Whitman erinnerte,
    I announce justice triumphant;
    I announce uncompromising liberty and equality;
    I announce the justification of candor, and the justification of pride;
    I announce a man or woman coming – perhaps you are the one –
    Himmel und Wasser waren von irisierendem Perlmutt, wie das Innere einer Seemuschel. Mildred dachte mit einem Mal, dass sie Arvid heiraten würde. Sie hatten einander noch nicht geküsst. Sie dachte, dass er sie heute küssen würde. Dass er sie heute fragen würde,
    Willst du mich heiraten?
    Und natürlich würde sie Ja sagen.
    Ja, ja, ja, ja!
    Sie konnte seine Frage fast nicht mehr erwarten. Sie konnte seinen Kuss kaum erwarten. Sie musste tief Atem holen: als erhöbe sich etwas in ihr, das mehr Luft unter den Schwingen verlangte, dies war die Höhe, auf der sie fortan leben würde. Sie sah ihn an, von der Seite,
    You must be he I was seeking.
    I have somewhere surely lived a life of joy with you,
    You grew up with me, were a boy with me,
    I ate with you, and slept with you –
    »Ich gehe jetzt«, sagt Arvid.
    Dann geht er. Er geht über das Deck, verschwindet im Schiffsinneren, Mildred wird schlecht.
    Ihr wird körperlich übel, als wenn ihre innersten Organe mit den seinen unauflösbar verbunden wären, und nun zerrte er sie nach außen, Mildred steht noch immer da und ringt mit dem Brechreiz, als das Schiff schon längst abgelegt hat. Es nimmt Kurs auf Amerika. Das Wasser braust. Deutschland entschwindet.Arvid in Berlin wird noch einmal ein Stipendium der Rockefeller-Stiftung beantragen, zusammen mit seinem Jugendfreund Max Delbrück, dem Cousin seiner Cousins. Max Delbrücks Antrag wird angenommen werden. Max wird emigrieren. Er wird ein berühmter Genetiker und Biophysiker werden, er wird 1969 den Nobelpreis für Medizin erhalten und nie mehr nach Deutschland zurückkehren. Arvids Antrag wird abgelehnt. Die Begründung, die intern für solche Fälle gegeben wird, leuchtet ein.
    Es besteht ein zu großes Risiko, dass ein solcher Auslandsaufenthalt die Bereitschaft eines deutschen Wissenschaftlers mindern könnte, sich nach seiner Rückkehr wieder mit den Umständen in Deutschland abzufinden.
    Die letzte Fluchtmöglichkeit ist ihm also genommen. Er muss sich nun damit abfinden: Hier ist er, hier bleibt er, hier wird er sein Leben verbracht haben. Für eine Karriere im Ministerium ist der Parteieintritt unabdingbar. Arvid Harnack tritt in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ein. Und in den Frühlingswochen 1937 kehrt Mildred nach Berlin zurück. Warum? Was kann schlimmer sein als ein Leben in Berlin?
    Du warst einfach zu lange in Deutschland.
    Das hat Mildred in Amerika immer wieder gehört.
    Du warst zu lange in Deutschland, du denkst wie eine Deutsche.
    Mildred hat in Amerika nicht Fuß fassen können.
    Sie denkt diesen Ausdruck auf Deutsch. Es ist ein wundervoller Ausdruck: Er beschreibt die Dinge genau. Um Fuß zu fassen, muss man den Boden unter den Füßen ja erst einmal verloren haben. Man muss gefühlt haben, wie es ist, einem Abgrund entgegenzuschliddern, hilflos, machtlos, auf einemvereisten Weg oder an einer schlammigen Böschung: Und dann mit einem Mal fühlt man Grund unter den Sohlen. Man findet Halt. Man gewinnt wieder die Kontrolle, man steht, die Zehen bohren sich in die Erde. Das Herz rast noch, aber die Panik weicht: Man hat Fuß gefasst, steht nun fest und sicher, wohlbegründet auf seinem eigenen Fleckchen Erde, genau das ist Mildred nicht gelungen.
    Schon die Schiffspassage nach New York war gänzlich unwirklich: ein grauer Traum, in dem Mildred Tag für Tag an der Reling stand, auf das wogende graue Wasser starrte, sie sah nichts, sie fühlte nichts. Wo war Emerson, wo war Margaret Fuller?
    Be not the slave of your own past. Plunge into the sublime seas, dive deep and swim far, so you shall come back with self-respect, with new power, with an advanced experience that shall explain and overlook the old.
    Aber der Pegelstand der erhabenen Meere war offenbar gesunken. Das Sublime war verdampft. Mildreds Schiffe liefen auf Grund. Und dort, wo ihr Herz hätte sein müssen, waren leere Gänge, hallende Korridore, die sie mit wachsender Unruhe zu durchstreifen begann, mit einer immer atemloseren Ungeduld, als liefe sie Gefahr, eine lebenswichtige Aufgabe

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