Wer wir sind
weiß ich freilich nicht. Vielleicht geht es darum, dass man Menschen sammelt, von deneneine Erneuerung der Kirche ausgehen kann. Dank Bischof Bell konnte ich einige Klöster der Kirche von England besuchen. Mir scheint, die Regelhaftigkeit des Zusammenlebens in solchen Gemeinden soll dem Einzelnen eine besondere Art der Freiheit verleihen. Man tritt einander nicht mehr als Sohn und Vater oder Freund und Freund entgegen, sondern als Mensch, für den Christus die Vergebung erwirkt hat. Man muss einander nicht mehr bewerten, bekritteln, erziehen. Man kann den anderen freigeben. Christus hat mein Gegenüber gerettet, wie er mich gerettet hat. Der andere soll mir nur noch begegnen als der, der er für Christus schon ist.«
Dietrich steht auf. Er tritt ans Fenster, er blickt hinaus in den abendlichen Garten.
»In mir ist noch viel Ungehorsam und Unehrlichkeit«, sagt er. »Es ist ein langer Weg. Ach Sabine. Wenn man doch nur durchhalten könnte.«
Mehr sagt Dietrich nicht. Er will die Schwester nicht beunruhigen. Aber er ist sicher, dass all die gegenwärtigen Sorgen und Widrigkeiten innerhalb der Kirche nur ein Vorgeplänkel sind. Bald wird man dem Staat offen entgegentreten müssen. Natürlich reden die Brüder sich nach wie vor mit Luthers Zwei-Reiche-Lehre heraus, nach der die Kirche sich aus den Angelegenheiten des Staates heraushalten soll. Aber in Wirklichkeit haben sie einfach nur Angst. Das ist verständlich. Aber es ist inakzeptabel. Kirche muss in der Wirklichkeit stattfinden. Wirklich ist, was wirkt. Angst vor den Konsequenzen des Handelns verbietet sich: Für einen Christen geht es ja allein darum, in jedem Augenblick das Richtige zu tun. Die Konsequenzen liegen nicht in seiner Hand. Über sie wird Gott entscheiden. Dietrich ist entschlossen, nun Ernst zu machen. Was er damit meint, hat er einem Freund geschrieben.
Inzwischen ist es ja nur allzu klar geworden, wer Hitler inWirklichkeit ist. Die ganze Christenheit muss nun mit uns darum beten, dass ein Widerstehen bis aufs Blut kommt und dass Menschen gefunden werden, die es erleiden .
In der schlichten weißen Kirche des Gutshofes Finkenwalde bei Stettin predigt Dietrich Bonhoeffer über den aaronitischen Segen. Der Gottesdienst ist gut besucht. Der Gutshof war in ziemlich verkommenem Zustand, aber die dreiundzwanzig Kandidaten haben ihn inzwischen wieder bewohnbar gemacht. Sie haben verputzt, geweißelt, die Böden abgezogen, sie haben die Kirchenstühle und den Esstisch gezimmert, natürlich fehlt es nach wie vor an allen Ecken und Enden.
Das ist Ruth von Kleist-Retzow offensichtlich. Sie ist entschlossen zu helfen. Sie kennt Dietrich noch nicht persönlich. Aber sie ist entschlossen, ihn sofort nach dem Gottesdienst aufzusuchen. Jedes seiner Worte spricht ihr aus dem Herzen. Auch die kleine Maria hängt an seinen Lippen. Ruth von Kleist-Retzow ist gerührt und erstaunt. Maria ist ja erst elf. Sie ist das jüngste der sechs Enkelkinder, mit denen Ruth nach Stettin gezogen ist, damit die Kinder nach Jahren des Privatunterrichts auf den elterlichen Gütern nun das Gymnasium besuchen können.
Der Chorgesang braust empor. Dietrich spricht den Segen, über den er gepredigt hat,
Der Herr segne dich und behüte dich
Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig
Der Herr hebe sein Angesicht auf dich
Noch immer blickt die kleine Maria selbstvergessen zu dem viel älteren Mann dort vorn empor. Erst als man sich erhebt, scheint sie zu erwachen. Sie zupft ihren geliebten großen Bruder am Ärmel.
»Max? Ich habe mitgezählt. Er hat es achtundsechzigmal gesagt. Das Wort ›Herr‹. Achtundsechzigmal. Das ist ziemlich viel, findest du nicht auch?«
So ist dieses Band geknüpft. Ruth von Kleist-Retzows Sonntage finden nun in Finkenwalde statt. Nach dem Gottesdienst isst man gemeinsam an der langen Tafel des Gutshofs. Dann spielen die Enkel mit den Seminaristen Tischtennis oder Schach, und Dietrich Bonhoeffer liest Ruth von Kleist-Retzow aus dem Manuskript seiner ›Nachfolge‹ vor. Sie lauscht konzentriert und mit geschlossenen Augen. Ruth von Kleist-Retzow ist theologisch beschlagen. Sie kennt Adolf von Harnack, Karl Barth, Paul Tillich. Sie organisiert Lebensmittel für das Seminar, Möbel, Kochtöpfe, Geld. Sie meditiert über denselben Texten wie die Seminaristen. Einer von ihnen isst donnerstags immer in Stettin zu Abend, um mit den Enkeln französisch zu plaudern. Dietrich selbst kommt jeden Mittwoch und erteilt den älteren
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