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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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selbst gar nicht mehr. Wie konnte ich nur so grauenhaft ängstlich sein? Ihr habt es gewiss auch nicht verstanden und mir nur nichts gesagt. Aber mir geht es nunganz grässlich nach, gerade weil dies eben eine Sache ist, die man nun nie wieder gutmachen kann.
    Sabine Leibholz hält den Brief in der Hand. Sie wird dem Bruder gleich schreiben, dass sie ihn damals sehr wohl verstanden hat und dass auch Gert ihm nie böse war.
    Offiziell unterrichtet Gert Leibholz noch immer. Am Morgen geht er immer noch in die Universität. Aber letzte Woche stand wieder SA vor dem Hörsaal.
    Geht nach Hause! Leibholz ist Jude, der liest heute nicht.
    Das Haus der Leibholzens ist noch immer ihr Heim. Seine Räume, die Gegenstände in diesen Räumen sind durchtränkt von den Jahren, die die Leibholzens in ihnen gelebt haben. Aber außerhalb ihrer vier Wände wird ihnen zunehmend das Atmen schwer. Feindseligkeit umgibt das Haus wie Wasser. Der Druck dieser Feindseligkeit wächst. Wie lange werden die Wände halten? Nachts liegt Sabine wach und lauscht den marschierenden Stiefeln, den Trommeln.
    Sie flüchten aus Göttingen, wann immer das möglich ist.
    Sie fahren nach Frankreich, in die Schweiz, zu den Eltern nach Berlin. Sie fliehen vor ihrem schönen Haus. Sie fliehen vor den Narzissen und den blühenden Apfelbäumen, vor den heißen Sommertagen, vor dem Wein, der sich an den Wänden rot färbt, vor den Herbstastern, dem warmen Lampenlicht am Abend und den wohlgefüllten Regalen im Keller, in denen sich die Marmeladen, Gelees und eingemachten Früchte reihen, die Sabine aus dem Obst ihres Gartens gekocht hat.
    Sobald sie außer Landes sind, verstehen sie ihre eigene Angst nicht mehr. Es ist doch alles gar nicht so schlimm. Es kann gar nicht so schlimm sein, wie sie es erinnern. Sie wollen es noch einmal angehen, sie wollen guten Mutes sein. Aber kaum sind sie zurück, legt sich die Bedrückung wie Blei aufdie Brust, es ist ja im Grunde erstaunlich, wie alles, noch das Gewöhnlichste, bedrohlich werden kann.
    Es ist erstaunlich, welche Furcht und Beklemmung einem ein Buchstabe einflößen kann. Wenn man zum Beispiel das Wort »Jude« auf einen Zettel schreibt, ist es nur ein Wort. Aber wenn man es an eine Schaufensterscheibe pinselt, in riesengroßen Lettern, die sich über den Passanten auftürmen, jeden Moment aus dem Glas herauszuschreiten scheinen, dann sind die Buchstaben selbst bedrohlich. Sie sind wie ein riesiges hasserfülltes Gesicht, wie ein überdimensionales Zähnefletschen, so dass die Leute ihre Schritte beschleunigen, sich mit eingezogenen Köpfen in ihre Mäntel ducken, eilend vorüberhasten. Und wer ist es, der da die Zähne fletscht? Aber es steht ja da. Es steht an der Wand,
    JUDE
    1935 kehrt Dietrich Bonhoeffer aus England zurück. Er sieht jetzt klar. Er weiß, was er zu tun hat. Er sieht jetzt den Weg, der vor ihm liegt, und den Weg, den er zurückgelegt hat, es scheint ihm ein gerader Weg zu sein. Es ist eine Reise mit Stationsnamen: Rom, Barcelona, New York, Kuba, England, Fanö. Dietrichs Freund Bischof Bell ist zurzeit Präsident von Life and Work beim Ökumenischen Rat in Genf.
    Er hat veranlasst, dass Dietrich letztes Jahr auf der ökumenischen Weltkonferenz in Fanö sprechen durfte. Dietrich hat die Versammlung aufgerufen, sich gegen die Kriegsvorbereitungen zu wehren,
    Worauf warten wir noch? Wollen wir selbst mitschuldig werden wie nie zuvor? Warum fürchten wir das Wutgeheul der Weltmächte? Warum rauben wir ihnen nicht die Macht? Wir können es noch heute tun. Das ökumenische Konzil ist versammelt. Die Völker warten darauf im Osten wie imWesten. Müssen wir uns von den Heiden im Osten beschämen lassen?
    Mit den Heiden hat Dietrich die Inder gemeint. Dietrich wollte eigentlich von England aus direkt nach Indien weiterreisen, zu Mahatma Gandhi. Er hat diesen Plan schon dreimal erwogen, und jedes Mal ist etwas dazwischengekommen. Aber diesmal war er ernsthaft entschlossen. Er wollte sich von Gandhi in der Praxis des passiven Widerstands unterweisen lassen. Bischof Bell hatte den Kontakt bereits hergestellt. Gandhi hatte Dietrich schon in seinen Ashram eingeladen. Aber er hat ihn auch freundlich darauf hingewiesen, dass Dietrich sich vielleicht allein würde behelfen müssen: Gandhi selbst rechnete damit, demnächst wieder einmal verhaftet zu werden. Daraufhin ist Dietrich von England direkt nach Deutschland zurückgekehrt.
    Er wird nun seinen eigenen Ashram gründen. Er hat in Fanö Jean Lasserre

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