Wer wir sind
leiden. Das nennt man das Martyrium: die Zeit einsamen Leidens, Dietrich ist ganz heiter. Es ist Sommer. Dietrich fährt durch den dichten Wald. Er fährt nach Schlawe, wo die Brüder auf dem Rasen sitzen, bei Kaffee und Broten mit Ruth von Kleist-Retzows Himbeermarmelade, und Dietrich kommt mitten unter sie.
Ich hab mein Sach Gott heimgestellt,
er machs mit mir, wies ihm gefällt.
Soll ich allhier noch länger leben,
ohn Widerstreben –
Aber der Umsturz steht nun ja bevor.
Es ist Spätsommer 1938, und Christel und Hans von Dohnanyi sitzen auf den Treppenstufen vor dem alten Bonhoeffer-Ferienhaus. Hans ist für zwei Tage nach Friedrichsbrunn gekommen, wo Christel mit den Kindern die Sommerwochen verbracht hat. Seit die Eltern die Villa in der Wangenheimstraße verkauft haben und in die Marienburger Allee gezogen sind, ist dies der einzige Ort, an dem noch ein wenig Bonhoeffer-Kindheit klebt. Es ist der einzige Ort, der Christels Bruder Walter noch gekannt hat. Es ist später Abend.
Die Wiese liegt grau im Mondlicht. Der Wald steht schwarz und schweigend. Hans wird morgen noch hierbleiben. Er hat Bärbel versprochen, ihre Puppenwiege zu reparieren. Er wird für die Jungen Pfeil und Bogen schnitzen und mit ihnen ein Stündchen durch den Wald streifen. Und dann fährt er nach Berlin zurück. Dann wird Hitler die Mobilmachung gegen die Tschechoslowakei anordnen, und dann wird man den Führer verhaften. Christel hofft, dass nun bald alles vorüber ist.
Hans muss endlich zur Ruhe kommen. Er vibriert, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Anspannungund Erschöpfung, es war ein unerträglicher Sommer. Freisler und seine Leute sind seit Mai so massiv gegen Hans vorgegangen, dass Minister Gürtner sich gezwungen gesehen hat, ihn aus dem Ministerium hinauszubefördern: Am 4. September ist Hans zum Reichsgerichtsrat ernannt worden. Hitler persönlich hat am Rande der Bayreuther Festspiele die Beförderung um zwei Stufen unterschrieben. Die Dohnanyis werden nun also nach Leipzig ziehen.
Christel lehnt sich an ihren Mann. Er legt den Arm um sie. Die Wälder umstehen sie stumm, fast fühlbar. In der Ferne zeichnet sich der Brockengipfel vor dem hellen Nachthimmel ab. Ein Schauder läuft Christel über den Nacken, wie von einem Windstoß auf schweißnasser Haut, sie werden nach Leipzig ziehen?
Hans wird Hitler stürzen. Und dann wird er die neue Stelle antreten, auf die ihn Hitler versetzt hat?
Christel faltet die Hände auf den Knien. Sie presst die Handwurzeln zusammen. Die Idee, Hitler vor ein Gericht zu stellen, erscheint ihr mit einem Mal völlig absurd. Sie erscheint ihr fantastisch, von märchenhafter Unwirklichkeit: Genauso gut könnte man versuchen, den Teufel vor ein Gericht zu laden. Aber vielleicht irrt Christel. Vielleicht fehlt ihr die Fantasie. Vielleicht mangelt es ihr an Glaube, Liebe, Hoffnung. Vielleicht kann wirklich die Tat einiger Einzelner, vielleicht kann Hans’ reiner guter Wille allein jene leuchtende Brücke über den Abgrund schlagen, auf der ein ganzes Volk sicheren Fußes zurückfinden könnte auf die richtige Seite. Aber Hans glaubt ja selbst nicht, dass der Staatsstreich gelingt.
Die Einsicht stürzt ohne Warnung herab, wie ein Fels auf ein Bahngleis. Christels Magen hebt sich, in ihren Ohren pfeift es: Hans geht davon aus, dass die Sache schiefgeht.
Warum sonst bereitet er den Umzug nach Leipzig vor?Warum sonst besteht er darauf, dass Sabine und Gert Leibholz das Land verlassen? Hitlers Sturz würde doch den Krieg verhindern, das Unrecht an den Juden rückgängig machen, die Parteien wieder etablieren, die Gerechtigkeit herstellen, die Ministerien und Gerichte umkrempeln.
»Hans?«, sagt Christel. »Und du bist sicher. Du glaubst, dass es gelingt. Du glaubst an diese Sache. Du gehst davon aus, dass der Umsturz stattfindet.«
Hans antwortet nicht gleich. In der Dunkelheit nimmt er seine Brille ab, putzt sie an seiner Jacke, umständlich, gründlich. Und wozu das? Was glaubt er sehen zu können, mitten in der Nacht, mit seiner sauberen Brille? Hans setzt die Brille wieder auf.
»Ich weiß es nicht«, sagt er. »Ich weiß es wirklich nicht. Wie soll ich es wissen? Ich gehe einfach nur. Ich gehe, Schritt für Schritt. Mehr kann ich ja nicht tun. Schritt für Schritt, und vielleicht im Kreis. Vielleicht auf einen Abgrund zu. Aber man kann ja nicht stehenbleiben. Das kann keiner. Man muss weitergehen, in irgendeine Richtung. Und kann ich in eine Richtung gehen, die ich
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