Wer wir sind
von vornherein als falsch erkenne?«
»Gerts Bruder wird mit seiner Familie nach Melbourne auswandern«, sagt Sabine Leibholz.
Sabine und Dietrich Bonhoeffer sitzen im Garten der Leibholzens in Göttingen, auf der kleinen Terrasse. Der Sommer hat seine Höhe überschritten. Der Wein an der Mauer hat begonnen, die Farbe zu wechseln.
»Sie gehen nächste Woche«, sagt Sabine. »Gerts Bruder hat die Sommerfelder Tuchfabrik Just Delbrück überschrieben, damit nicht alles den Nazis in die Hände fällt.«
»Ihr müsst auch fort«, sagt Dietrich. »Hans ist von einer weiteren Verschärfung der Lage überzeugt. Wenn Hitler indie Tschechoslowakei einmarschiert, gibt es Krieg. Und wer weiß, ob ihr dann noch aus dem Land kommt. Hans sagt, jüdische Pässe sollen demnächst eingezogen und besonders gekennzeichnet werden. Und neuerdings raunt man von Plänen zur restlosen Vernichtung der Juden im Kriegsfall. Freilich, das wird eine Übertreibung sein. Aber ihr seid hier im Grunde schon lange nicht mehr sicher. Und immerhin könnt ihr nach England gehen, wo sich Bischof Bell für euch einsetzen kann.«
Sie schweigen. Sabine sieht zu ihrem Mann hinüber. Gert wandert im hinteren Teil des Gartens umher, zwischen der Himbeerhecke und den verblühenden Sonnenblumen.
»Mich hält ja hier gar nichts mehr«, sagt Sabine. »Ich will längst fort. Ich will Mann und Kinder in Sicherheit wissen, daneben ist mir alles andere gleichgültig. Aber Gert wird es so schwer. Siehst du, so wie jetzt geht er immer. Er wandert über Stunden hinweg allein im Garten herum, unansprechbar, vollständig verdüstert.«
Wobei, ganz so leicht wird es auch Sabine nicht. Sie entwirft seit Monaten im Geist eine Liste der Dinge, die sie mitnehmen wird. Aber natürlich kann man den Spätsommerduft nicht mitnehmen, den Nebel aus den Wiesen oder die Dämmerung, in der die letzten Blüten der weißen Rosen schwerelos zu schweben scheinen. Und vor allem kann man die Familie nicht mitnehmen, die Eltern, die Brüder und Schwestern.
»Ihr solltet vielleicht zuerst in die Schweiz fahren«, sagt Dietrich. »Das wäre noch kein endgültiger Abschied. In der Schweiz könntet ihr abwarten, wie sich alles entwickelt. Ich könnte so lange hier im Haus bleiben, damit niemand denkt, ihr wärt emigriert.«
Denn dann würde das Haus enteignet. So wollen es die deutschen Devisenbestimmungen: Genehmigungsfrei dürfenReisende und Auswanderer nicht mehr als zehn Reichsmark ins Ausland ausführen. Was Emigranten darüber hinaus mitnehmen wollen, muss von den Devisen- und Zollfahndungsstellen ausdrücklich genehmigt werden. Zu den genehmigungsfähigen Gegenständen zählen weder Schmuck- noch Wertgegenstände, sondern ausschließlich unverzichtbare Artikel des täglichen Bedarfs. Wenn die Genehmigung zur Mitnahme vorliegt, sind die genehmigten Artikel vollständig aufzulisten, und zwar mit Angabe von Kaufdatum und Preis. Auf alle nach 1933 erworbenen Gegenstände erhebt die Deutsche Golddiskontbank sodann eine Abgabe, gewöhnlich in der Höhe des Kaufpreises. Darüber hinaus fällt eine Reichsfluchtsteuer von fünfundzwanzig Prozent auf den gesamten Besitz an. Und sollte die Devisenstelle frühzeitig genug auf die Idee kommen, jemand könnte die Ausreise erwägen, erlässt sie eine Sicherungsanordnung. Damit werden alle Konten gesperrt, und man verliert das Recht über sein gesamtes Eigentum.
»Bring deinen Mann und deine Kinder in Sicherheit«, sagt Dietrich. »Das ist nun deine wichtigste Aufgabe.«
Und was ist die seine?
Die Bekennende Kirche hat dem Druck nicht standgehalten.
Im Laufe des Sommers haben fast alle beamteten Pastoren den persönlichen Loyalitätseid auf Hitler abgelegt. Karl Barth in der Schweiz hat die Tschechoslowaken zum Kampf gegen Hitler aufgerufen, und daraufhin hat sich die Vorläufige Kirchenleitung der Bekenntnissynode von ihm distanziert. Und Dietrich selbst ist der Aufenthalt in Berlin verboten.
Er darf die Hauptstadt nur noch besuchen, um seine Eltern zu sehen. Aber er darf nicht lehren.
Er darf überhaupt nicht mehr öffentlich sprechen: Die Zeit der offenen Worte ist vorbei. Dietrich ist in die Verschwörung eingeweiht. Er darf keinerlei Aufmerksamkeit mehr auf sichziehen. Und wenn der Krieg beginnt und er zum Militär eingezogen wird, wird Dietrich den Kriegsdienst verweigern. Und dann wird man ihn töten.
Marianne Leibholz sitzt am Tisch, in ihrem Kinderzimmer. Sie ist elf Jahre alt. Sie hat alles um sich herum ausgebreitet: Papier,
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