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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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Kindern Konfirmandenunterricht. Er lernt immer mehr Mitglieder der riesigen Familie kennen, über der Ruth als Matriarchin thront. Sein Leben nimmt Gestalt an, es strukturiert sich. Dietrich hat seine ganze Bibliothek nach Finkenwalde kommen lassen, auch seinen Bechstein-Flügel.
    Abends begleitet er darauf Eberhard Bethge, einen Seminaristen der ersten Stunde, der als Mitglied des Bruderhauses bei Dietrich in Finkenwalde geblieben ist. Die Kandidaten lernen hier, wie man eine Predigt vorbereitet, wie man tauft, traut und beerdigt. Aber die Kurse sollen nicht immer wieder von vorn anfangen. Neulinge sollen sich in eine bereits funktionierende Gemeinschaft integrieren. Sie sollen sich dem vorgefundenen Rhythmus des Hauses anpassen: den Andachten, den Beichten, die Dietrich wieder eingeführt hat, den täglichen halbstündigen Meditationen über einem Vers, mit denen sichviele Kandidaten schwertun, sie sprechen von Verzweiflung, Tränen, Zornesausbrüchen, düsterer Leere, die in dieser halben Stunde auf sie eindrängen.
    Dietrich hört sich alles an. Dann schickt er sie wieder zum Meditieren. Die Kandidaten verzweifeln fast an der furchtbaren Regel, niemals über einen abwesenden Bruder zu sprechen, oder wenn, es ihm hinterher haarklein zu gestehen. Aber Dietrich besteht darauf. An heißen Sommertagen fahren sie an die Ostsee zum Schwimmen und zum Ballspielen. Sie singen. Sie kochen. Sie dichten Bettelverse, um die pommerschen Gutsherren und Gemeinden zu weiteren Spenden zu bewegen. Dazwischen ist Dietrich für die Bekennende Kirche auf Reisen. Dann trägt Eberhard Bethge die Verantwortung: der »Stellvertreter des Führers«, wie er witzelnd genannt wird. Eberhard duldet die Bezeichnung mit gutmütigem Humor. So ist Eberhard eben. Er ist Dietrich unverzichtbar.
    Ich kenne überhaupt keinen Menschen, der Dich nicht leiden kann, während ich viele kenne, die mich nicht leiden können.
    Das schreibt Dietrich dem Freund.
    Es liegt wohl daran, dass Du von Natur aus offen und bescheiden bist, während ich verschlossen und etwas anspruchsvoll bin.
    Aber Eberhard gegenüber ist Dietrich nicht verschlossen. Mit Eberhard an seiner Seite ist Dietrich nicht allein. Mit den Brüdern an seiner Seite ist er nicht allein: Und er denkt nicht an Klaus oder Karl Friedrich Bonhoeffer, wenn er von den Brüdern spricht. Er denkt an die, mit denen er lebt.
    Im September 1937 schließt die Gestapo das Seminar und versiegelt den Finkenwalder Gutshof.
    Pfarrer Martin Niemöller ist bereits ins KZ eingewiesen. Überall werden nun die Brüder verhaftet. Die offizielle Reichskircheder Deutschen Christen schweigt. Keiner erhebt die Stimme und nimmt die Verhafteten in Schutz. Dietrich Bonhoeffer zieht sich mit den Seinen in die pommerschen Wälder zurück.
    Er bringt seine Kandidaten in leeren Pfarrhäusern unter, in Köslin, in Schlawe, in Schlönwitz, dann im Sigurdshof, der einem Verwandten von Ruth von Kleist-Retzow gehört. Dies ist die Zeit der Sammelvikariate. Offiziell sind die Kandidaten Gemeindepfarrern der Bekennenden Kirche zugewiesen. Heimlich aber wird der Unterricht fortgesetzt. Die Lebensverhältnisse der Kandidaten sind nun wahrhaft einfach. Sie müssen weite Wege zurücklegen, um auch nur das Nötigste einzukaufen. Wasser holen sie von einer Pumpe im Hof. Ihre Notdurft verrichten sie in einem Häuschen am Waldrand. Im eisigen Winter biegen sich Äste und Balken unter dem Schnee, und die Wäsche gefriert auf den Leinen. Jeder Schritt knirscht in der einsamen Stille. Aber keiner springt ab.
    Sie sind standhaft. Sie sind Illegale. Dietrich beschwört sie: Haben es die offiziellen Pfarrer der Bekennenden Kirche denn leichter? Sie erhalten Bezahlung, schön. Aber dafür müssen sie jederzeit fürchten, verhaftet zu werden. Wie leicht kann es unter diesen Umständen geschehen, dass man sich anpasst. Und ist dies nicht die größte Gefahr: dass man aus der Wahrheit fallen könnte? Dietrich nimmt nirgends und nie ein Blatt vor den Mund.
    Er muss dazu keinen besonderen Mut aufbringen. Es fällt ihm leicht. Noch ist die Zeit, in der es geboten ist zu sprechen. Noch ist die Zeit des Kampfes. Noch ist er nicht allein: Was er trägt, trägt er mit den Seinen. Aber wenn der Krieg kommt, wird sich das ändern. Dietrich wird den Kriegsdienst verweigern. Dann werden sich alle von ihm wenden. Auch die Brüder. Sich auf solche Weise dem Staat zu widersetzen ist inder evangelischen Kirche unerhört. Dietrich wird dann allein sein. Er wird allein

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