Wer wir sind
mehr im Lot sind?
Woran erkennt man, dass sich etwas Grundsätzliches verschoben hat? Wie bemerkt man, dass etwas geschieht, das nicht mehr dem Bereich des Normalen zuzuordnen ist, den Fluktuationen des Alltäglichen, sondern dass sich die Fundamente verändern, auf denen der Alltag ruht?
Noch herrscht kein Krieg, aber er wird vorbereitet. Noch werden die Juden nicht deportiert und ermordet, aber sie werden immer stärker drangsaliert, die Mehrheit der Deutschen kommt damit ausgezeichnet zurecht. Zum einen muss schließlich irgendwer den Paria abgeben, damit sich jeder Prolet zum Arier geadelt fühlen kann. Und zum anderen ist es eine international anerkannte und wissenschaftlich erwiesene Tatsache, dass es grundsätzlich verschiedene Menschenrassen gibt. Niemand würde dem widersprechen, auch kein Bolschewist oder Angelsachse. Verlangt wird vom Volksgenossen aber noch nicht einmal biologisches Verständnis, sondern schlicht Zustimmung zu der Erkenntnis, dass man ins Vaterland nicht eintreten kann wie in einen Verein.
Deutscher wird man nicht durch Wunsch, Willen, Wohlverhalten oder Verdienst. Deutscher wird man durch Zauberei.Gehört man nicht von vornherein dazu, können auch guter Wille und persönliche Mühe des Einzelnen nichts ausrichten: Ein Christ mit deutscher Staatsbürgerschaft und jüdischen Vorfahren ist und bleibt ein Jude, es sei denn, alle seine jüdischen Urgroßeltern hätten ihre Kinder christlich taufen lassen.
Es ist die reine Magie: Derselbe Mensch, der als Nachkomme ungetaufter Großeltern Jude wäre, verwandelt sich in einen reinrassigen Arier, wenn ein paar Tropfen Weihwasser die Scheitel seiner verblichenen Ahnen benetzt haben. Ist es da ein Wunder, dass der Staat die Kirche drangsaliert, wenn er ihr eine solche Macht zuschreibt?
Bedauerlicherweise nützt die Kirche diese Macht nicht.
Es ist Dezember 1933. Dietrich Bonhoeffer hat im Herbst dieses ersten Jahres nationalsozialistischer Herrschaft Deutschland verlassen.
Er hat sich einsam gefühlt, isoliert noch unter den Freunden vom Pfarrernotbund: Dietrich hat verlangt, der Notbund solle festschreiben, dass jeder, der dem Ausschluss von jüdischen Christen aus der Kirche zustimmt, sich damit selbst aus der Kirche ausschließt. Dietrichs Freunde fanden das reichlich radikal. Dietrich amtiert nun als Pfarrer zweier deutschsprachiger Kirchengemeinden im südlichen Londoner Vorort Forest Hill. Sein verehrter Lehrer, der Schweizer Theologe Karl Barth, hat versucht, ihn nach Deutschland zurückzubeordern:
Sie haben jetzt kein Recht auf interessante denkerische Schnörkel und Sondererwägungen. Es geht jetzt darum, dass Sie ein Deutscher sind, dass das Haus Ihrer Kirche brennt, dass Sie genug wissen und das auch gut genug zu sagen wissen, um zur Hilfe befähigt zu sein, und dass Sie also mit dem nächsten Schiff auf Ihren Posten zurückzukehren haben.
Dietrich hat aber nicht gehorcht.
Er hat in England einen wichtigen, wunderbaren Freund gewonnen: George Kennedy Allan Bell, den Bischof von Chichester. Bell hat in einer Rede im Oberhaus die britische Öffentlichkeit mit der Bekennenden Kirche und den Beschlüssen der Bekenntnissynode von Barmen bekannt gemacht. Zusammen mit Dietrich hat Bell Hilfsmaßnahmen für Flüchtlinge aus Deutschland eingeleitet, Unterkünfte besorgt, Gelder bereitgestellt, Dietrich findet nicht, dass er in England überflüssig ist. Zudem nimmt er auch von hier aus weiter am Kirchenkampf in Deutschland teil. Er schreibt Briefe, er empfängt Besucher in seiner Wohnung in Sydenham, London.
Es ist eine typisch englische Behausung, groß und geräumig, mit Fenstern, die die zauberhafte Gartenlandschaft von Kent überblicken. Leider schließen die Fenster aber nicht richtig. Es zieht. Es gibt auch keine vernünftige Heizung. Im Sommer wird es hier wunderschön sein, aber jetzt ist es Winter, Dietrich an seinem Schreibtisch hat sich in mehrere Decken gehüllt.
Etwas quält ihn, seit Wochen schon. Kurz vor seiner Abreise nach England ist in Berlin Sabines Schwiegervater gestorben. Der alte Mann hatte sich gewünscht, dass Dietrich die Trauerfeier halten sollte. Aber Dietrich hat abgelehnt.
Seine vorgesetzte Behörde hatte ihm sehr entschieden Zurückhaltung nahegelegt: Der alte Leibholz war schließlich nicht getauft. Er hat an seinem jüdischen Glauben festgehalten, er war kein Christ, und folglich war Dietrich für ihn gar nicht zuständig. Dietrich schreibt nach Göttingen an Schwester und Schwager,
Ich verstehe es
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