Wer wir sind
wiedergetroffen, mit dem er vor einigen Jahren am Union Theological Seminary in New York zusammen studiert und unterrichtet hat. Lasserre ist Pazifist. Er war höchlichst erstaunt, als Dietrich ihm Luthers Zwei-Reiche-Lehre dargelegt hat. Die Kirche soll sich aus den weltlichen Angelegenheiten des Staates heraushalten? Wie das denn? Ist denn die Welt nicht den Menschen gegeben, damit sie in ihr leben? Hat nicht Jesus selbst in der Welt gelebt, ist er nicht selbst in der Welt gestorben?
Nach dem Treffen in Fanö hat Dietrich Lasserre nach Bruay-en-Artois in Frankreich begleitet, in Lasserres Gemeinde. Sie haben noch einmal über die Bergpredigt gesprochen. Dietrich glaubt, dass er nun zu begreifen beginnt. Ihm ist endlich klargeworden, was er zu tun hat. Und er ist erschüttert. Er kann es kaum fassen, was er bislang für ein Mensch war. Erhat gepredigt, er hat über die Kirche geredet und geschrieben, und die ganze Zeit war er gar kein Christ. Er war eitel und ehrgeizig. Er wollte sich aus dem Kreuz, an dem Christus gestorben ist, eine steile Karriere zimmern, und er war auch noch ganz zufrieden mit sich selbst. Es ist ihm ganz schauerlich, daran zu denken. Aber nun ist alles anders. Dietrich betet. Erst jetzt hat er eigentlich beten gelernt. Von nun an will Dietrich nicht mehr Theologe sein, sondern Christ. Er wird ab jetzt kompromisslos für Frieden und Gerechtigkeit einstehen, also für Christus. Dies ist nun sein Beruf. Seine Berufung. Er kann kaum glauben, wie er bisher gelebt hat.
Er kann kaum glauben, dass er und seine Freunde einmal ernstlich erwogen haben, ein Gespräch zwischen Hitler und Barth einzufädeln. Dabei soll doch nicht Hitler bekehrt werden, sondern die Kirche. Natürlich hört Hitler nicht, er darf gar nicht hören. Er soll vielmehr seine Gegner zum Hören zwingen: Das ist der Auftrag, den Adolf Hitler auf der Welt zu erfüllen hat. Dietrich und die Seinen sind es, die lernen sollen zu hören: So herum liegt die Sache. Dietrich hat begonnen, die Bibel zu lesen.
Er legt nicht Texte für eine Predigt aus, er diskutiert nicht im Geist mit Vorgängern oder Kollegen. Er will nicht beeindrucken. Er schweigt. Er lauscht. Er liest die Bibel gegen Dietrich Bonhoeffer: Er liest sie, als würde etwas von ihm verlangt. Als würde etwas gefordert. Es ist eine große Befreiung, ein starkes Glück. Nur darf er nun nicht aus lauter Angst vor der Meinung anderer Menschen wieder irgendwo stecken bleiben. Er muss ein ernsthafter Mensch werden, er muss mit der Bergpredigt Ernst machen, mit der Nachfolge Christi. Dies ist die einzige Kraftquelle, die den ganzen Hitlerspuk in die Luft sprengen kann, dessen ist er sicher.
Auf die Ehe wird er verzichten, auf die Liebe einer Frau.Dergleichen ist ihm nicht bestimmt. Auch das ist ihm nun klargeworden. Dietrich ist neunundzwanzig. Die Frau, die er acht Jahre lang geliebt und begehrt hat, hat seine Gefühle erwidert. In all der Zeit, in der er sich nach ihr gesehnt hat, in der er einsam gelitten und gerungen hat, hat sie genau das Gleiche erlebt. Dies ist nun zutage gekommen. Und warum haben sie nicht zueinandergefunden? Sie standen einander doch nah genug. Er hat Elisa noch aus London jede Predigt gesandt, auch seine Weihnachtspredigt 1933 über das Magnificat der Maria,
Das leidenschaftlichste, wildeste, revolutionärste Adventslied, das je gesungen wurde, ein unerbittliches Lied von stürzenden Thronen, von den gedemütigten Herren dieser Welt, ein Lied von Vertrauen und Rettung, von Gerechtigkeit und Heil, gesungen von einem jungen Mädchen aus einfachen Verhältnissen, einer ledigen Mutter.
Elisa war von der Predigt entzückt. Sie hat all die Jahre auf Dietrich gewartet, auf den Schritt, den er nicht gewagt hat. War er zu eitel, zu scheu, zu ängstlich, zu spröde?
Nun ist es zu spät. Sie können nicht da anknüpfen, wo sie vor acht Jahren hätten beginnen müssen. Sie können die Jahre des Wartens nicht überspringen, die große Sehnsucht, in der sie acht Jahre lang nicht zueinandergefunden haben. Das ist Dietrich klar. Alles wird nun klar und klarer.
Dietrich ist zu Besuch bei den Leibholzens in Göttingen. Er sitzt mit seiner Zwillingsschwester Sabine auf der kleinen Veranda, die an Sabines Wohnzimmer grenzt.
»Und was wirst du jetzt tun, Dietrich?«
»Ich werde ein Predigerseminar einrichten, für angehende Pastoren der Bekennenden Kirche. Wir müssen kompromisslos nach der Bergpredigt leben, in einer Art neuen Mönchstums. Was Gott dann daraus macht,
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