Wer wir sind
geht Franz Six dabei wie immer nur um die Sache. Adam von Trott zu Solz verfügt über wertvolle Auslandskontakte. Es sind Kontakte, die die politisch Korrekten im ganzen Leben nicht knüpfen könnten. Six gibt sich keinen Illusionen hin: Den meisten seiner Leute fehlt es an Format, an Geist, an gesellschaftlichem Schliff. Trotts englische Freunde würden gar nicht mit ihnen reden. Aber leider hat Schellenberg bei Himmler nichts ausrichten können. Es sind Listen gefunden worden: Adam von Trott war als Staatssekretär im Auswärtigen Amt vorgesehen.
Nun, da lässt sich freilich nichts machen. Allenfalls Alexander Werth ist nun noch zu retten. Er ist ein guter Freund Adam Trotts. Er wohnt in Franz Alfred Six’ Villa, seit er ausgebombt worden ist. Werth muss auf jeden Fall gerettet werden, wie soll Six sonst arbeiten? Wie soll er sein Amt weiterführen? Six ist niedergeschlagen: Er hat eigentlich niemanden mehr, mit dem Reste sinnvoller Kommunikation möglich wären. Er ist umgeben von Nazi-Dumpfbacken.
»Waltrude«, sagt der neunundzwanzigjährige Hanns Martin Schleyer zu seiner jungen Frau. »Ich habe das Richtige für uns gefunden.«
Schleyer ist Mitglied der SS, Parteigenosse und überzeugterNazi der ersten Stunde. Im Juli 1941 hat er die Leitung des nationalsozialistischen Studentenwerks der Deutschen Universität in Prag übernommen, deren Rektor Professor Klausing war. Mittlerweile hat Schleyer aber einen neuen Arbeitgeber: Seit letztem Jahr ist er als Referent im Zentralverband der Industrie in Böhmen und Mähren tätig. Aufgabe des Verbandes ist die Enteignung der tschechischen Unternehmer und die Germanisierung der Wirtschaft.
»Die Villa Klausing ist wirklich sehr schön«, sagt Schleyer zu seiner Frau. »Sie liegt in der Bubentscher Straße 55, ein sehr nettes Viertel. Sie ist preiswert zu haben, unter den gegebenen Umständen. Am 1. Oktober können wir einziehen.«
Es ist Mittwoch, Besuchstag für die Frauen in Moabit. Dorothee Poelchau steht in der Küche in der Afrikanischen Straße und backt eine Biskuitrolle. Gleich wird Harald kommen und den Kuchen für die Frauen abholen. Die meisten dieser Frauen sind bereits Witwen. So viele Frauen haben ihre Männer verloren, ihre Kinder, ihr Leben. Harald hat alle Hände voll zu tun, wie immer.
Und er wird noch einmal Vater. Gertie Siemsen erwartet ein Kind von ihm. Harald Poelchaus Studienkollegin, die Tillich-Assistentin aus der Zeit in Frankfurt: Sie arbeitet jetzt in Berlin für die Zinkberatungsstelle.
Harald und Gertie haben einander letztes Jahr wiedergetroffen. Gertie ist oft zu Harald in sein Tegeler Gärtchen hinausgeradelt, um ihm bei der Gartenarbeit zu helfen, wenn Harald zwischen den Bombenangriffen, seinen Pflichten in Tegel und Plötzensee und seiner Suche nach Rettungsmöglichkeiten für die letzten untergetauchten Berliner Juden einmal Zeit dafür fand.
Gertie freut sich auf ihr Kind. Es soll im Februar 1945 zurWelt kommen. Gertie hat keinen Moment lang mit dem Gedanken gespielt, dieses Kind vielleicht nicht zu bekommen. Sie ist siebenunddreißig und unverheiratet. Dies ist das Kind, das sie gehabt haben wird.
Harald hat Gertie Siemsen sehr gern.
Er hat das Dorothee gesagt. Sie haben in der Küche gestanden, zwischen Herd und Ausguss, und einander in den Armen gehalten. Sie haben recht lange so gestanden.
Dorothee steht in ihrer Küche. Sie backt eine Biskuitrolle für die Witwen in Moabit. Harald wird den Kuchen nach Moabit bringen, morgen wird er wieder in Tegel sein und dazwischen vielleicht in Plötzensee. Hier sind sie hingestellt, hier werden sie sich bewähren. Die Arbeit geht weiter, die Sorge, das Sterben und damit die Möglichkeiten zu helfen, zu trösten, nützlich zu sein. Dorothee wird sich den Dingen gewachsen zeigen. Solange der Körper unversehrt bleibt, sind alle Schmerzen Wachstumsschmerzen.
»Es ist ein Fehler. Es ist alles ein furchtbarer Fehler. Dieser Fehler muss sich aufklären. Er wird sich aufklären. Ich begreife es gar nicht, ich begreife es nicht, aber es muss sich doch alles aufklären.«
Marion bereut es bereits ein wenig, dass sie der Gefängnisvorsteherin nachgegeben hat. Die Vorsteherin ist gestern in ihre Zelle gekommen und hat gefragt, ob Marion bereit wäre, eine Mitgefangene in ihrer Zelle aufzunehmen: Elisabeth Freytag von Loringhoven, Mädy genannt.
»Ich weiß überhaupt nicht, was passiert ist. Mein Mann ist tot. Meine Kinder sind fort. Sie sagen, mein Mann hätte sich umgebracht, aber
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