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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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Sie laufen und laufen. Barbara näht mit der Nähmaschine Flicken in Luftwaffenhemden. Und sie weint. Was nützt es, dass Marion in der Zelle nebenan sitzt? Was nützt es, dass Barbara nun einmal am Tag an die frische Luft darf? Barbara hat solche Angst vor dem Verhör, vor möglicher Folter, davor, sich in Widersprüche zu verstricken und Freunde zu verraten. Kann man sie nicht einfach zur Hinrichtung bringen? Wozu überhaupt leben, wenn man am Ende stirbt? Wozu sich abquälen, wenn der Tod am Ende alles zunichtemacht? Wäre es dann nicht besser, man hätte nie gelebt, man wäre nie geboren worden? Im Gang auf der Treppe der Anstaltsgeruch. Karbol, alte Socken, verfaulender Kohl. Die anderen krabbeln aus ihren Zellen wie Käfer. Der Hof liegt imSchatten einer Mauer. Die Tür öffnet sich, und da ist Harald Poelchau. Barbara fällt vor ihm auf die Knie.
    »Ich kann nicht lügen. Ich kann unmöglich lügen.«
    Harald Poelchau kommt nun jeden Mittwoch. Barbara fiebert diesen Besuchen entgegen.
    »Ich würde mich nur selbst in meine Lügen verwickeln«, sagt Barbara. »Ich muss die Wahrheit sagen, ich will wahrhaftig sein. Was sonst bleibt denn noch außer Wahrhaftigkeit?«
    »Es ist unsinnig«, sagt Poelchau. »Es ist vollkommen unsinnig, denen die Wahrheit zu sagen.«
    Sie führen dieses Gespräch zum wiederholten Mal.
    »Was heißt das denn, wahrhaftig um jeden Preis?«, sagt Poelchau. »Auch um den Preis eines Menschenlebens? Um das Leben Ihres Mannes?«
    Er sagt ihr nicht, dass Hans von Haeften längst verurteilt ist. Er sagt ihr nicht, dass ihr Mann nicht mehr lebt.
    »Ich bringe Ihnen ein Gesangbuch mit«, sagt er. »Marion Yorck nebenan hat auch eins. Sie hat vorgeschlagen, dass Sie nun jeden Abend zusammen singen.«
    So klopfen sie nun Abend für Abend nach Einschluss mit ihren Eheringen die Nummer eines Liedes ans Heizungsrohr. Dann singen sie. Sie können einander nicht singen hören. Aber sie wissen, die andere singt dasselbe.
    Pfarrer Hanns Lilje wählt einen alten, aber noch guten schwarzen Anzug von strengem Schnitt. Er packt Nachtzeug, Waschzeug, die letzten Brasilzigarren zusammen, die Bibel, ein schön gebundenes Exemplar des Neuen Testaments auf Griechisch mit extra großen Buchstaben für schlechtes Licht, ein Stück Brot, einen Apfel, einen leichten Mantel und nach einigem Überlegen seinen Hut.
    »Ich bin so weit.«
    Sie fahren in die Lehrter Straße.
    »Posten drei! 176 Zugang!«
    Die Tür schlägt zu.
    Der schlimmste Moment. Bis hierher war Hanns Lilje stark. Jetzt sinkt er auf der Pritsche nieder. Er betet. Er fleht. Worum fleht er, um seine Errettung, um seine Freiheit? Um innere Gelassenheit, um einen Beweis von Gottes Nähe?
    Lass mich die Tür vergessen. Die Tür. Ich bitte dich. Lass mich diese Tür vergessen
    Clarita ist verhaftet. Sie sitzt in Moabit. Alle Türen sind zu. Sie ist nun entschuldigt. Von ihr kann man nicht mehr verlangen, Adam zu retten und die Kinder zu finden. Adam ist zum Tode verurteilt. Lebt er noch? Die Kinder sind fort. Das Attentat ist vier Wochen her. Genau vier Wochen: achtundzwanzig Tage. Was sind achtundzwanzig Tage, wie viel von einem Monat, einem Jahr, einer Ehe, einem Leben? Wie viel Prozent seines Lebens hat Adam in Haft verbracht, wie viel Prozent ihrer Ehe waren sie getrennt? Auf solche Fragen stürzt sich der übermüdete Geist und rechnet sich an ihnen bewusstlos, um nicht darüber nachdenken zu müssen, was geschehen wird oder geschehen könnte. Clarita sagt sich, dass Adam vielleicht überlebt. Es ist nicht ausgemacht, dass er sterben wird. Der Krieg könnte enden, bevor sie ihn hinrichten. Oder vielleicht trifft eine Bombe sein Gefängnis, die Zellentür springt auf und er kann fliehen. Jetzt, wo seine Familie bereits verhaftet ist, könnte er fliehen, unbesorgt, ohne sich Gedanken um ihr Wohlergehen zu machen.
    Und muss ihm das immer wieder passieren? Franz Alfred Six ist zutiefst verärgert. Warum muss jede Institution, die er leitet,zum Verräternest werden? Schulze-Boysen, die Harnacks und all die anderen haben schon das Ansehen seiner Auslandswissenschaftlichen Fakultät ramponiert, und nun blamieren Haeften und Trott die Kulturpolitische Abteilung.
    Haeften ist bereits hingerichtet. Aber Trott lebt noch. Six hat sie beide in einer Versammlung im Auswärtigen Amt als Verräterschweine bezeichnet. Und er hat seinen Mitarbeiter Mahnke zu Walter Schellenberg geschickt, um zu eruieren, ob man die Hinrichtung Trotts nicht doch noch verhindern kann.
    Es

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