Wer wir sind
davon erfährt? Dann lieber gleich sterben. Clarita ist wieder nach Hause gegangen, in ihre Wohnung in der Rheinbabenallee. Am selben Abend wird sie von der Gestapo verhaftet.
Hans Bernd von Haeften verzweifelt an seiner Schuld. Er macht sich die allerschwersten Vorwürfe: Was hat er getan? Was hat er seiner Familie angetan, seinen Kindern, seiner Frau? Es presst ihm das Herz ab, an das Elend zu denken, das er über sie bringt. Und die armen Eltern. Der jüngere Sohn erschossen, der ältere hingerichtet. Wie konnte Hannes Haeften glauben, richtig zu handeln? Barbara hat recht gehabt mit ihrer Sorge, ihren Zweifeln. Sie hat in allem recht gehabt, wie sie immer recht gehabt hat.
Ich habe das 5. Gebot nicht heilig gehalten. Ich habe gegen euch nicht Liebe geübt, ihr wart mir anvertraut, und ich habe euch im Stich gelassen. Um euretwillen, um der Eltern willen hätte ich von all dem Abstand nehmen müssen.
Das war die Treuepflicht, die er hatte und der er nicht nachgekommen ist.
Das Wissen um diese seine wahre Schuld hat ihm die Kraft gegeben, vor Freisler aufrecht zu stehen.
»Eine Treuepflicht gegenüber dem Führer habe ich nicht mehr empfunden.«
»Aha, so. Es ist also klar. Die haben Sie nicht empfunden und sagen, wenn ich keine Treue empfinde, dann kann ich Verrat begehen.«
»Nein. Nein, so ist es nicht ganz, sondern – «
»Sondern?«
»Nach der Auffassung, die ich von der weltgeschichtlichen Rolle des Führers habe, nämlich dass er ein großer Vollstrecker des Bösen ist – «
Natürlich hat Freisler ihn nicht ausreden lassen. Stattdessen hat er Hans Bernd von Haeftens Aussage selbst komplettiert.
»Ha, ja, na aber, na. Das ist ja nun wohl klar. Da ist also kein Wort mehr dazu zu sagen.«
Hannes Haeften sitzt in Plötzensee. Er schreibt seinen letzten Brief.
Meine liebe allerliebste Frau, Dich küsse ich und umarme Dich und halte Dich an meinem Herzen mit den tiefsten flehendsten Wünschen für Zeit und Ewigkeit
Marion ist verhört worden. Nach all der Einsamkeit und Stille ist sie zurück in die Prinz-Albrecht-Straße gebracht worden. Kommissar Neuhaus ist mit seinen Fragen über sie hergefallen.Marion ist auf keine Frage eingegangen. Sie hat alles abgestritten, sie hat erklärt, von nichts gewusst zu haben. Neuhaus hat versucht, sie zu provozieren.
»Ihr Mann hat Sie also belogen und hintergangen?«
Marion hat nicht geantwortet. Sie hat abgewartet. Was würde er tun, sie schlagen, sie bedrohen? Nach einer Weile hat er sie gehen lassen. Aber die Stille ist beendet. Am nächsten Tag holt man Marion zum Rundgang. Marion versteht nicht gleich.
»Rundgang! Raustreten.«
Marion tritt aus der Tür ihrer Zelle in den Gang. Neben ihr steht Barbara von Haeften.
Marion stopft Socken. Es sind harte Armeesocken. Marion hat ein Kleid, ein paar Schuhe, die Wäsche, die sie trägt. Sie kratzt ihre Wanzenbisse. Sie geht im Hof spazieren, mit den anderen Frauen. Sie darf baden oder duschen, sie hat ein Gesangbuch von der Vorsteherin bekommen. Ist dies nun leichter oder schwerer? Es ist ein Weg zurück. Marion tastet. Sie weiß noch nicht, ob sie den Weg gehen kann. Und dann öffnet sich die Zellentür, und Harald Poelchau kommt zu Besuch.
»Sie!«
Poelchau schließt rasch die Tür hinter sich.
»Sie leben! Ach, und ich war so sicher, die Männer wären alle tot.«
»Nein«, sagt Harald. »Nicht alle sind tot. Hier, nehmen Sie dies und essen Sie erst einmal.«
Er hat ein Brötchen mit Honig mitgebracht. Er hat einen Apfel: einen kleinen sauren Sommerapfel. Honig und Apfel erfüllen die Zelle mit ihrem Duft. Es ist der Duft des Sommers, der Geschmack des Lebendigen, süß und sauer.
»Essen Sie, während ich da bin«, sagt Harald. »Wenn ich weg bin, kommen die Aufseherinnen oft nachschauen, und dann wird alles gestohlen.«
»Wieso sind Sie hier!«
»Der Gefängnispfarrer von Moabit ist schon seit Längerem suspendiert. Er hat seine Schlüssel in einer Zelle vergessen, und der Gefangene ist geflohen. Ich habe mich seit einer Weile darum bemüht, seine Pflichten übernehmen zu dürfen. Und nun endlich ist es gelungen.«
»Ach, Herr Poelchau. Sagen Sie mir, wer lebt. Sagen Sie, wie es den Freunden geht.«
»Ich habe Ihren Mann vor seinem Tod noch einmal sehen können.«
»Sie haben ihn gesehen!«
»Er war ganz ruhig und gefasst. Wir haben das Vaterunser miteinander gebetet. Und er hat mir gesagt, dass er Sie gesehen hat. Auf der Straße vor dem Gericht.«
Nun weint sie.
Barbaras Tränen laufen.
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