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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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das kann ich nicht glauben, warum hätte er sich umbringen sollen? Warum hat man mir meine Kinder genommen? Man hat mir die Kinder weggenommen.«
    Die Gefängnisvorsteherin hat Marion gewarnt: Mädy von Loringhoven steht im Begriff überzuschnappen. Marion hat den Namen Loringhoven noch niemals gehört. Mädy ist aber hier, weil auch ihr Mann in das Attentat verwickelt war. Marion war zerrissen: Musste sie wirklich die Einsamkeit, die Stille aufgeben, zum Wohl irgendeines durchgedrehten Frauenzimmers?
    »Wenn niemand sie aufnimmt und beruhigt, muss ich sie nach Buch in die Irrenanstalt schicken«, hat die Gefängnisvorsteherin gesagt. »Sie tobt Tag und Nacht, das geht so nicht weiter.«
    Wenige Stunden später ist Mädy Marion um den Hals geflogen. Seitdem redet sie. Sie redet, redet und redet, ohne Punkt und Komma.
    »Mein Mann ist Offizier«, sagt Mädy Loringhoven. »Mein Mann war Offizier. Er ist am 23. Juli gefallen, ich habe es gar nicht gewusst. Man hat mich gar nicht unterrichtet. Ich habe ein Beileidstelegramm bekommen und wusste doch gar nicht, dass er tot sein sollte. Natürlich habe ich mich an die Polizei gewandt. Und die behauptet nun, er hätte Selbstmord begangen. Man behauptet, mein Mann wollte den Führer umbringen. Aber das ist doch hanebüchen. Mein Mann war natürlich nach dem Röhm-Putsch entsetzt, aber bis dahin waren wir absolut hitlertreu. Wir haben ja nie über Politik geredet. Ich habe mich nie für Politik interessiert. Ich hatte schließlich meine vier Kinder. Der Kleinste ist gerade erst geboren.«
    »Sie meinen, Sie wussten von nichts?«, sagt Marion. »Ihr Mann hat Ihnen nicht gesagt, dass er sich mit Männern trifft, die ein Attentat planen?«
    »Nie! Niemals. Ich glaube es auch nicht. Ich glaube niemals, dass er ein Attentat geplant hat. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich hier bin. Es ist unerträglich! Ich halte dasnicht aus. Mir ist immer schwindlig, mein Herz rast, ich habe Angst, hier zu sterben. Es flimmert mir vor den Augen, ich sehe Sternchen.«
    »Mein Mann ist auch tot«, sagt Marion. »Er ist hingerichtet worden. Man hat ihn aufgehängt.«
    Das immerhin sorgt für einen Moment der Stille. Aber es dauert nicht lange, dann geht es wieder los.
    »Und die Wanzen. Dass man zerbissen wird. Dass man hier von Wanzen zerbissen wird.«
    »Ja«, sagt Marion.
    Aber es bringt sie auf eine Idee. Marion und Mädy wischen nun die Zelle. Sie wischen und wischen. Sie wischen gegen die Wanzen an, gegen den Wahnsinn, gegen die Verzweiflung Mädys, die Zelle ist schon sehr schön blank und sauber. Mädy zieht immer ihr Kleid aus, wenn sie sich hinkniet, um die Zelle zu wischen. Dann stehen die Wachtmeisterinnen am Guckloch: Mädy hat zauberhafte Wäsche, ganz aus Spitzen und Seide.
    Sie hat so schöne Kleider, die die Wachtmeisterinnen befühlen. Sie erlauben Marion und Mädy, immer wieder frisches Wasser zu holen. Dann zieht Mädy ihre Kleider aus und ist still. Abends klopfen Marion Yorck und Barbara Haeften mit ihren Eheringen die Nummer der Gesangbuchtexte ans Heizungsrohr. Dann singen sie zu dritt, Marion, Barbara Haeften und Mädy Loringhoven.
    Bei Luftangriffen werden ihnen nun immer die Zellen geöffnet. Dann stehen sie beieinander im dritten Stock. Sie stehen an den Fenstern und sehen die Stadt brennen. Barbara Haeften hat keine Angst mehr. Sie weiß inzwischen von Hannes’ Tod. Sie weint noch immer, aber es ist ein anderes Weinen: ein zorniges Schluchzen, das allmählich versiegt. Sie sind hier oben miteinander vereint.
    Sie sprechen miteinander. Wie schön es ist, mit einem Menschen zu sprechen. Sie sind vielleicht die Einzigen in der großen Stadt, die sich nicht vor den Bomben fürchten. Sie sind unverwundbar: So werden sie nicht sterben, so nicht, und wenn, dann werden ihre toten Männer sie auffangen. Clarita fragt immer als Erstes nach den Kindern.
    »War Poelchau bei euch? Was hat Poelchau gesagt? Weiß man inzwischen, wo die Kinder sind?«
    Sie umarmen einander, sie streicheln und trösten einander. Sie halten einander an den Händen, wenn erst diese, dann jene erfährt, dass nun auch ihr Mann nicht mehr lebt. Die Bomben fallen. In den Kellern, in den Bunkern, in den Splittergräben ducken sich die Volksgenossen zusammen, geschüttelt von Todesangst. Die Frauen stehen am Fenster wie bei einem Fest.
    »Ich bin ja mal gespannt, ob sie uns hinrichten werden«, sagt Marion.
    »Aber wir sind doch unschuldig«, sagt Mädy.
    »Du vielleicht«, sagt Marion. »Ich nicht.«
    Fast

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