Wer wir sind
seiner Zelle.«
Der Vater wird auf jeden Fall erschlagen. Und Katharina und die Mutter vielleicht auch. Also. Was gibt es dann verdammt noch mal ständig zu heulen?Freya in der Afrikanischen Straße schreibt an Helmuth, dass sie bei Poelchaus zwei sehr nette Frauen kennengelernt hat.
Die eine, die Frau des Truchseß bei Dir in Tegel, hat mir einen großen Eindruck gemacht, sie hat eine große innere Klarheit und Reinheit, dabei viel Charme und Schwung und Klugheit. Die andere war die sehr nette dicke Braut vom jüngsten Bonhoeffer.
Dietrich Bonhoeffer darf Maria Wedemeyer schreiben. Dieser Brief ist sein Weihnachtsbrief: Heute ist der 19. Dezember 1944. Es ist der erste Brief aus der Prinz-Albrecht-Straße, den man Dietrich gestattet, die ersten Worte seit Ende August, die er an seine Lieben richten darf. Er hofft, dass er die richtigen Worte findet. Er will Maria sagen, dass er sich noch keinen Moment vereinsamt oder verlassen gefühlt hat. Alle, die er liebt und die ihn lieben, sind ihm gegenwärtig. Sie umstehen ihn, sie sind verbunden mit ihm, er fühlt ihre Gebete und ihre Gedanken deutlicher als jemals zuvor. Auch andere Schätze vibrieren vor Leben: Musikstücke, Gedichte, die Erinnerung an Gemälde und Landschaften. Er schreibt,
Je stiller es um mich herum wird, desto deutlicher spüre ich die Verbindung mit Euch. Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat.
Er hat auch ein Gedicht verfasst, das er beilegen wird. Es ist ihm in den letzten Abenden eingefallen, und er hat mit viel Freude und Genugtuung daran gefeilt.
Von guten Mächten treu und still umgeben
behütet und getröstet wunderbar –
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.
Von guten Mächten wunderbar geborgen –
Kommissar Sonderegger händigt Maria den Brief in der Prinz-Albrecht-Straße aus. Er zieht den Hut. Maria dankt. Sonderegger ist sehr zufrieden mit sich. Maria eilt weiter. Sie muss noch einen Besuch in der Lehrter Straße machen, wo ihr Onkel einsitzt, Hans Jürgen von Kleist-Retzow. Dann muss sie hinaus nach Tegel, was sie hoffentlich heute auch noch schafft: In Tegel sitzt Dietz Freiherr von Truchseß, der Mann ihrer Cousine Hesi aus Bundorf, bei der Maria eine Weile gewohnt hat.
Nina Stauffenberg ist ein paar Wochen lang in der Prinz-Albrecht-Straße verhört worden. Inzwischen hat man sie aber im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück untergebracht, in dem Zellenblock, der dort für politische Gefangene errichtet worden ist. Man hat ihr eine Zelle im ersten Stock zugewiesen. Das Fenster öffnet sich auf das Gebäude der Lagerkommandantur. Nina erhält die Verpflegung der SS-Wachen. Außerdem darf ihr ihre Schwägerin Litta einiges zukommen lassen.
Alexanders Frau war nur kurz inhaftiert. Melitta Stauffenberg hat man jüdische Großeltern nachgesehen, wird man ihr da ihre Ehe mit einem Stauffenberg nachtragen? 1939 ist Litta in die Erprobungsstelle der Luftwaffe in Rechlin am Müritzsee zwangsverpflichtet worden, um Zielgeräte für Sturzflugvisiere zu testen. Inzwischen muss sie mit den Stukas Junkers Ju 87 und Ju 88 an die dreitausend Sturzflüge vorgenommen haben: Manchmal fünfzehnmal am Tag hat sie sich aus viertausend Meter Flughöhe auf tausend Meter fallen lassen.
Sie fliegt auch jetzt für Führer, Volk und Vaterland. Zum Dank darf sie ihre Familie besuchen. Der hochschwangeren Nina bringt sie Lebertran, Karotten, Patiencekarten, Zigaretten, auch Lehrbücher über Stenografie. Nina will präpariert sein. Wer weiß, vielleicht wird Nina selbst Geld verdienenmüssen, wenn man sie aus der Haft entlässt? Nina übt Stenografie, sie legt Patiencen. Sie raucht. Sie hat immer stark geraucht. Das muss sie nun zum Glück auch hier nicht aufgeben. Das Schlimmste an ihrer Lage scheint ihr zu sein, dass ein paar Zellen weiter die Mutter eingesperrt ist.
Die Mutter hat von gar nichts gewusst. Sie ist vollkommen unschuldig. Die Verhaftung kam für sie aus völlig heiterem Himmel. Und nun lässt man sie nicht zueinander, und Nina kann die Mutter nicht um Vergebung bitten. Nur Briefe können sie einander schreiben. Die Mutter schreibt voll Sorge um die schwangere Tochter. Dabei ist es doch sie, die ganz unschuldig leidet.
Nina hat immerhin von Claus’ Plänen gewusst. Sie hat Claus’ Pläne gebilligt, sie hat sich ihm nicht in den Weg gestellt. Sie hat nicht als Bleigewicht an ihm gehangen. Nun spürt sie seine Dankbarkeit. Sie
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