Wer wir sind
Arm in Arm.
Im Berghaus erwartet sie Marion Yorck.
Da sitzen sie nun zusammen, die beiden Frauen, deren Geschichten seit 1940 so eng miteinander verflochten sind. Marion lacht, sie ist heiter und gelöst. Konrädchen wirft sich ihr sofort entgegen. Er plappert, er schäkert, er klettert auf ihren Schoß. Natürlich will er auch, dass ihn diese nette neue Tante ins Bett bringt. Marion ist ganz anders als Romai: Das denkt Freya, fast gegen ihren Willen. Marion sucht die Muße, Romai die Arbeit. Romai leidet unter Edolfs Tod. Marion spricht von Peter wie von einem Lebenden.
Aber Edolf ist so schwer gefoltert worden. Vielleicht ist es unerträglich, angesichts solcher Qualen weich und offen zu bleiben. Vielleicht verhärtet das Entsetzen die Seele. Vielleicht sträubt sich der eigene Lebenswille dagegen, den Erdulder solcher Schmerzen mitfühlend zu begleiten, ihn festzuhalten über den Tod hinaus.
Freya sitzt im Zug. Weihnachten ist vorüber, und Freya kehrt nach Berlin zurück. Natürlich hat sie wieder längst nicht alles erledigen können, was sie sich für Kreisau vorgenommen hatte. Aber Familienleben und gründliche Arbeit lassen sich nun einmal schwer miteinander vereinen, und Familienleben ist das Wichtigere. Freya ist mit Lebensmitteln bepackt, für Helmuth und für die Poelchaus. Kreisau bleibt zurück. In Kreisau hatte Freya die fröhliche Sicherheit, dass Helmuth lebt. Jetzt muss sie zurück auf den dunklen Grund.Aber Helmuth selbst ist ganz unerfindlich heiter. Er erkundigt sich voll Teilnahme nach dem Schwein. Es ist noch am Leben: Der Metzger war auch zwischen Weihnachten und Silvester verhindert. Das Schwein soll nun also am 19. Januar geschlachtet werden. Helmuth schreibt,
Das Wettrennen zwischen dem Schwein und mir ist also noch nicht, wie ich annahm, zugunsten (?) des Schweins entschieden. Das ist über den Tod wahrscheinlich genau meiner Meinung: dass vier Zentner noch kein zureichender Grund ist.
Helmuth wird nun regelmäßig zum Lichtbad geführt, wegen seiner Ischiasschmerzen. Mittelstädt, der ihn gewöhnlich abholt und ins Lazarett bringt, ist ein entschiedener Nazigegner und offener Defätist. Er behauptet, das wären alle im Lazarett, außer dem Medizinalrat natürlich.
»Der ist ein Hundertfünfzigprozentiger. Aber im Grunde hat er nichts mehr zu sagen.«
Der Medizinalrat weiß schließlich nicht einmal von den Kleintieren, die seine Station beherbergt. Gerade waren ja die Kontrollen, die dafür sorgen sollen, dass Privatleute nicht mehr als zwei Hühner und drei Kaninchen für sich behalten und den Rest bei den staatlichen Stellen abliefern. Also haben die Wachtmeister ihre überzähligen Karnickel und Federviecher vorsorglich samt und sonders ins Lazarett der Haftanstalt Tegel eingeliefert.
»Es geht doch gar nicht anders«, sagt Mittelstädt. »Ich frage Sie ehrlich, Graf. Wie viele Hühner braucht man? Doch mindestens acht, oder besser mehr!«
»Woher bekommen Sie denn das Futter?«
»Das bringen die Gefangenen mit, die auf Außenkommando sind. Dafür dürfen sie selbst auch Kaninchen im Lazarett halten.«
Helmuth Graf von Moltke staunt. Hier also wird er seine letzten Lebenswochen verbracht haben. Wie erstaunlich die Welt ist, überall.
Annedore öffnet Julius’ Brief. Der Brief ist vom 1. Januar 1944. In diesem Brief redet Jüli sie nicht als Mein Paulus oder als Lieber Junge an. Sie liest die Anrede, und die Tränen stürzen auf das Papier,
Meine liebe Frau
Am 5. Januar 1945 wird Dr. Julius Leber im Schuppen von Plötzensee gehängt.
Am 6. Januar darf Freya Helmuth sehen. Sie denkt diesmal gar nicht daran, dass dies das letzte Mal sein könnte. Sie hat das schon viel zu oft gedacht. Sie lässt sich einfach von Helmuths Nähe beglücken. Am schönsten wäre es, gar nicht zu sprechen und nur still beieinander auszuruhen. Aber dann reißt man sie womöglich vorschnell auseinander, weil man glaubt, sie hätten einander nichts zu sagen. Also erzählt Freya von Weihnachten. Helmuth hört zu. Er stellt Fragen, er sieht seine Frau an. Er ist sehr glücklich. Das letzte Jahr war das wichtigste Jahr seines Lebens. Es war eine große Zeit: die größte. Es gab ein paar sehr schlimme Tage, schlimmere, als er jemals erlebt hat, aber das war der Preis. Er kann nur voll Dankbarkeit zurückblicken.
Und wenn er nun doch am Leben bliebe? Könnte er dann wohl eine der Erfahrungen dieses Jahres mit hinüberretten in den Alltag?
Aber das ist nicht mehr wichtig. Helmuth ist auf jeden Fall
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