Wer wir sind
herein. Sie stellt sich vor, er ginge durch die Tür wieder hinaus. Die Tränen laufen und laufen. Sie gibt Fett in die Pfanne, sie füllt einen Topf mit Wasser, pellt eine Zwiebel und setzt den Hasenkopf zum Auskochen auf. Nachher will sie noch zu Hercher, dem Pflichtverteidiger. Dann muss sie Carl Viggo Moltke treffen, der zu Freisler gegangen ist. Es scheint, dass man Kreisau nicht beschlagnahmen will.
Und der Termin ist in den Dezember verschoben worden.
Die Erschütterung ist atemberaubend. Momente strömenden Glücks sind zu ertragen, dazwischen laufen die Tränen. Alles alles alles ist Liebe. Die Liebe bereitet sie vor auf Hellmuths Tod, und die Liebe lässt sie darum kämpfen, dass er lebt. Die Spannung ist manchmal unerträglich: als wäre die Aufgabe, die ihnen gestellt ist, im Grunde nicht jedem Menschen aufgegeben, der einen anderen liebt.»Was wollen Sie eigentlich mit einem Gesuch bei Hitler erreichen, Gräfin?«, sagt Hauptmann Haus vom Amt Ausland/ Abwehr zu ihr. »Hitler ist ausgefallen. Er kann nicht sprechen, er hat Wucherungen im Hals, und seit dem 20. Juli ist er halb taub. Zu ihm dringt nichts mehr durch. Er ist verrückt, völlig übergeschnappt. Alle Macht liegt bei seinen ehemaligen Günstlingen, die einander unablässig umschleichen und belauern. Müller. Kaltenbrunner. Himmler ist eine Spinne. Es ist die Hölle. Und es rast alles dem Ende entgegen.«
Roland Freisler rückt Freya den Stuhl. Dann setzt er sich, mit einer knappen Verneigung. Was kann er für die Gräfin Moltke tun? Graf Moltke leidet unter Ischiasschmerzen? Die verehrte Frau Gräfin möge sich damit doch bitte an Schulze wenden oder an Amtsrat Thiele. Und ein Stuhl, während der Verhandlung? Ja, warum nicht. Graf Moltke erhält in der Verhandlung einen Stuhl.
Freya sieht Freisler an. Sie lächelt. Sie versucht ihm zu gefallen. Aber es ist sinnlos. Er sieht sie ja gar nicht. Er sieht nur sich. Er schwadroniert, er stellt sich dar. Sie kann ihm dabei zusehen, wie er sich selbst beim Reden zuhört.
»Ein guter Richter sieht schon an der Haltung eines Angeklagten, ob er schuldig oder unschuldig ist. Ich erkenne das in den ersten Minuten. Es ist ein hohes Amt, das ich versehe. Ein Richter darf sich niemals irren, er darf niemals ein Fehlurteil fällen.«
Freya sieht, dass er sich glaubt, was er sagt. Er redet dummes Zeug, aber er ist nicht dumm. Er ist eitel, sprunghaft, ein Theaterspieler, ein sehr gefährlicher Mensch.
Aber nicht Freisler wird die Zukunft entscheiden.
An diesen Glauben will Freya sich halten. Sie werden geführt, und wie sie geführt werden, ist es gut und richtig. Alldie Gänge, die Freya tut, all die Rettungsversuche sind im Grunde vergeblich. Deswegen darf man sie aber nicht unterlassen. Wie hat Helmuth mehr als einmal gesagt? Nur was man in Erkenntnis der Sinnlosigkeit allen Handelns tut, hat vielleicht überhaupt einen Sinn.
Und dieser Sinn ist verborgen. Sie werden geführt, auch wenn sie selbst es nicht erkennen. Der Glaube daran kommt und geht, Ebbe und Flut.
Man hat Helmuth Moltke die Fesseln abgenommen, wegen seiner Ischiasschmerzen. Und man hat ihm seine Anklageschrift zugestellt. Beim Lesen hat Helmuth Herzrasen bekommen: Es steht der tollste Unsinn darin. Der Termin ist jetzt für den 12. Dezember festgelegt. Helmuth muss sich bereithalten zum Kampf. Er muss sich bereithalten zum Sterben. Beides zugleich ist furchtbar anstrengend. Wie hat wohl Peter das Ganze ertragen?
Helmuth denkt jetzt manchmal an den toten Freund. Er denkt, dass Peter ihn selbstloser, tiefer geliebt hat als Helmuth Peter. Andererseits, Peter hatte Glück. Der Tod kam zu ihm so viel schneller als zu Helmuth.
Im Prozess gegen Edolf Reichwein, Eduard Brücklmeier und Hermann Maaß am 20. Oktober ist auch Julius Leber zum Tode verurteilt worden. Aber er lebt noch. Annedore hat das von Kriminalrat Stange erfahren. Der Kriminalrat hat eine Absprache mit Annedore getroffen: Er wird die Akte Leber immer wieder nach unten schieben. Der Krieg geht zu Ende. Deutschland verliert. Wenn die Alliierten da sind, kann Julius Leber dem Kriminalrat nützen. Annedore hat auch schon einige Male Sprecherlaubnis erhalten. Wenn sie allein ist, hofft sie, dass die Alliierten den Wettlauf gegen die Zeit gewinnenund Julius retten. Wenn sie Jüli ansieht, glaubt sie nicht daran: Er glaubt nicht daran.
Sie haben ihn furchtbar gefoltert, den tapferen Mann. Die Spuren bedecken sein Gesicht, seine Arme, alles, was sie von ihm sieht. Sie denkt an
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