Wer wir sind
spürt seine schützende Nähe,
Du bist bei mir
Wenn auch dein Leib verging
Das schreibt sie in einem Gedicht, das sie nennt: »Unser Papi«. Sie ist Claus dankbar: Er hat ihr beigebracht, alles in ihrem Inneren zu verschließen. Das tut sie. Die Schale wird immer dicker, immer fester, immer undurchdringlicher. Die Schale schützt den Kern, das weiche Innere: ihn und sie und das Kind, das in ihr wächst. Zu Beginn ihrer Haft war sie sehr verzweifelt. Zu Beginn hatte sie große Angst, man könnte sie womöglich auch töten wollen. Jetzt hat sie keine Angst mehr. Der Panzer um sie wächst, das Chitin, die Käferflügel womöglich, mit denen sie ihnen hier entkommt. Sie spürt dieses Wachsen der Schutzhülle, ihre Verhärtung. Alle Waffen müssten schartig werden, an ihrem Hals.
Und sie merken das. Wenn Nina etwas braucht, wenn sie etwas verlangt, dann parieren die Wachen, bevor sie noch darübernachgedacht haben. Danach sind sie manchmal zornig auf sie. Aber das ist ihr gleichgültig. Das prallt an ihr ab. Alles prallt an ihr ab. So muss es sein. Darauf richtet sie ihre ganze Kraft.
Helmuth lebt. Es ist heute der 19. Dezember, und Helmuth lebt. Der Termin ist noch einmal verschoben worden, auf den 8. Januar. Es hat Freya umgeworfen. Einen Tag und eine Nacht lang war sie versunken in der schlimmsten Migräneattacke ihres ganzen Lebens. Jetzt geht es wieder. Freya ist noch einmal in das liebe vertraute Gefängnis gekommen, zum letzten Wäschetausch vor Weihnachten. Wie gern kommt sie her, wie heimatlich ist ihr der Korridor inzwischen: Dort drüben ist Harald Poelchaus Zimmer, da ist Gissels und hier dasWartezimmer.
Freya setzt sich. Über ihr in seiner Zelle ist Helmuth. Durch diese Tür gegenüber von Freya geht es zu ihm. Freya kann die Tür nicht durchschreiten. Aber andere können es. Es ist nicht unmöglich. Helmuth ist dort oben, er atmet, er geht auf und ab, er denkt an sie, er ist auf der Welt. Seine Augen wandern noch immer über ihre Briefe, seine lieben Augen. Die Tür öffnet sich, und Gissel reicht ihr das Paket mit Helmuths getragener Wäsche.
Am Nachmittag, kurz bevor Freya nach Kreisau aufbricht, bringt Poelchau ihr Helmuths Weihnachtsbrief.
Für den voraussichtlichen Rest meines Lebens bin ich bestens mit allem versorgt.
Helmuth meint Schinken, Butter, saubere Socken. Lange Unterhosen. Honig. Den Honig liebt er am meisten,
Er ist so sehr meines Pims Produkt.
Helmuth schreibt,
Wann stirbt eigentlich das Schwein, vor oder nach dem Termin?
Er meint das Kreisauer Schwein, das schon längst hätte geschlachtet werden müssen. Aber der Metzger hatte keine Zeit. Und Freya kann sich jetzt nicht auch noch darum kümmern. Freya in Kreisau bereitet in aller Eile Weihnachten vor.
Die Handschuhe, die sie in Berlin für die Kreisauer Vorschulkinder gestrickt hat, hat sie zu Schwester in die Spielschule gebracht. Auch all ihre Erbsenpakete und die selbst gebastelten Engelchen hat sie bereits glücklich verteilt. Der Schnee liegt hoch, und es ist sehr kalt. Die Söhnchen sind mit ihr den Berghaushügel hinuntergetollt, über den Gutshof, durchs Schloss und ins Dorf. König hat seinen vierten und letzten Sohn verloren. Schmittkes vierter Sohn ist ebenfalls gefallen. Überall hat Freya Helmuths Grüße ausgerichtet, und überall ist sie auf Mitgefühl gestoßen, auf Sorge, auf Empörung. Nun hat sie noch die Waggons von Helmuths alter Eisenbahn beim Stellmacher abgeholt, der sie mit neuen Dächern versehen hat, sie hat ihren alten Fuchskragen für Frau Pick, die prächtige bestickte Samttasche für Asta und ein paar schöne Bücher für Romai eingepackt. Und damit ist Schluss. Die Bestände sind geplündert. Ein weiteres Weihnachten ließe sich kaum mehr bestücken. Der Baum ist mit Lametta und roten Äpfelchen geschmückt. Unter dem Baum sind die Geschenke für die Kinder aufgebaut: Tuschkasten, Bücher, die Eisenbahn für Caspar. Und für Konrad ein Bollerwagen, von Zimmer gebaut und recht hübsch bemalt,
Freyas Wägelchen!
Pfarrer Lilje ist an diesem Weihnachtsabend zum Gefängniskommandanten von Moabit gerufen worden. Der Kommandanthat Lilje aufgefordert, ihm zu folgen. Vor einer der Zellen ist er stehen geblieben. Die Tür öffnet sich. Und da steht Peter Yorcks Bruder Bia.
»Sie haben für heute Abend um seelsorgerischen Beistand ersucht«, sagt der Kommandant. »Die Gefängnispfarrer haben bereits Dienstschluss. Aber Herr Dr. Lilje wird einige Worte an Sie richten.«
Die Zellentür öffnet sich
Weitere Kostenlose Bücher