Wer wir sind
seine erste Haft. Sie denkt an seine Briefe mit der zittrigen Schrift: an die drei Monate Arrest in der Dunkelzelle. Es hat ihn nicht gebrochen. Sie haben ihn damals nicht gebrochen und auch jetzt nicht. Aber er ist müde. Todmüde. Sie darf seine Hände streicheln, sie darf sein Gesicht streicheln.
Er sagt: »Ich kann nur dem Schicksal immer wieder danken, dass es dich an meine Seite gestellt hat. Wie unwichtig ist alles andere im Vergleich damit.«
Er sagt: »Die Liebe, derer die menschliche Seele fähig ist und die stärker als alles in der Welt ist, beweist, dass die Seele göttlichen Ursprungs ist. Und das, was von Gott kommt, wird zu ihm zurückkehren.«
Am 16. November wird er dreiundfünfzig. Die Kinder haben ihm Geburtstagsbriefe geschrieben und Bilder gemalt. Sie wenigstens sind unbeschwert von all dem Kummer. Es ist Julius Leber ein großer Trost.
»Wo warst denn du? Wo?«
Konrädchen hält Freyas Beine umfasst. Freya ist in Kreisau: Casparchen hat Geburtstag. Freya hat für ihn Pantöffelchen genäht. Asta hat einen alten Wecker für ihn, der noch geht. Freya holt von Frau Rose fünfzehn Eier, um Mohnstrudel und Apfelkuchen zu backen. Plätschke ist gefallen, Kammel ist vermisst, Krauses Trecker haben die Soldaten mitgenommen. Bei Heides hat die Frau einen Jungen bekommen und ihr Mann eine Kopfverletzung. Das ist natürlich günstig, es geht ihm gut und er ist nun zu Hause.
Casparchen hat viele Geburtstagsgäste eingeladen. Sie spielen den ganzen Nachmittag Fliegeralarm. Freya nutzt die Zeit, um die Bienen für den Winter einzupacken und die jüngsten Briefe in den Stöcken zu verstauen, seine und ihre, die zusammengehören. Ansonsten ist die Dreschmaschine kaputt, das ist mehr als ärgerlich. Der Dampfpflug soll von Ludwigsdorf kommen, hoffentlich schon in den nächsten Tagen. Das wäre großartig. Freya ist fröhlich. Er kann ja nicht sterben. In Kreisau ist klar, dass er nicht sterben kann.
Der Prozess findet wahrscheinlich am 12. statt. Aber er kann auch wieder verschoben werden. Er findet am 12. statt, aber wenn nicht, dann sicher erst nach Neujahr. Oder vielleicht schon morgen. Und dann wird er tatsächlich wieder verschoben, diesmal auf den 19. Dezember. Wollen sie ihn wirklich so kurz vor Weihnachten umbringen? Der Termin ist auf den 20. verlegt. Auf den 19. und den 20., sie nehmen sich also zwei Tage Zeit. Was bedeutet das? Jeder Tag ist ein gewonnener Tag. Jeder Tag bedeutet, dass die Alliierten näher rücken, zugleich bringt er sie der Verhandlung näher. Jeder Tag bedeutet genau das: diesen einzigen Tag.
Freya macht einen Sonntagsspaziergang durch den Tegeler Wald, zusammen mit Harald Poelchau und dem kleinen Harald, der so alt wie Casparchen ist. Das Kind plappert. Freya friert. Sie ist erschöpft. Sie blickt hinüber zu der Haftanstalt, in der ihr Mann sitzt. Die kleine Menge der Tage, die ihr bis zur Verhandlung noch bleiben, schmilzt furchtbar schnell in ihrer Hand. Wie lange wird sie danach ohne ihn leben müssen? Vielleicht noch fünfzig Jahre, im äußersten Fall. Was ist das schon, vor der Ewigkeit? Aber das Leben muss jede Stunde neu begonnen werden.
Auf dem Rückweg gehen sie an der KleingartensiedlungAm Waldessaum entlang. Die Eisdiele von Frau Coppi ist geschlossen.
Helmuth sitzt am Tisch und schreibt.
Noch etwas Technisches: Ich will meine Decken und die Wäsche hierlassen, wenn ich wegkomme. Gissel soll alles verwahren, bis Du kommst und es holst. Oder Du kommst am Tag vor dem Termin vormittag und holst alles. Das ist eigentlich schöner, als wenn Du dann in das leere Haus noch einmal kommen musst.
Annedore Leber hat ihre Tochter nach Berlin geholt. Katharina Leber soll für den Vater um Gnade bitten. Sie soll ihre alte Freundschaft zu ihrer Klassenkameradin Gudrun Himmler wieder aufleben lassen, sie soll sich bei Gudrun für den Vater verwenden. Katharina ist aus allen Wolken gefallen. Sie hat nichts von der Verhaftung ihrer Eltern gewusst. Sie hat nicht gewusst, warum ihr Vater niemals mehr zu Besuch gekommen ist.
»Und dafür hast du mich hierhergeholt? Damit ich mit Gudrun rede? Dafür hast du mich nach Hause geholt?«
Die Mutter weint und weint. Die Bomben fallen und fallen. Annedore und ihre Tochter kauern draußen im Garten im Splittergraben. Die Mutter schluchzt.
»Er wird mir noch erschlagen, dort im Gefängnis.«
Aber er wird doch so oder so erschlagen.
»In der Lehrter Straße dürfen sie nicht in den Keller. Ach, er wird mir noch erschlagen, in
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