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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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erneut. Rüdiger Schleicher tritt herein, mit der Geige, die ihm seine Frau hat bringen dürfen.
    Rüdiger Schleicher spielt. Er spielt Weihnachtslieder. Können Ernst von Harnack und Justus Delbrück, kann Klaus Bonhoeffer den Schwager hören? Erinnern sie sich der Musizierstunden in den großen Häusern der Wangenheimstraße, der Kunz-Buntschuh-Straße, in den Villen der Gelehrtenfamilien der Harnacks, Delbrücks und Bonhoeffers, einander benachbart, vielfach miteinander verstrickt? Rüdiger Schleicher lässt die Geige sinken. Hanns Lilje richtet sich auf. Er sucht nach Worten für eine Predigt.
    Julius Leber liest den Weihnachtsbrief seiner Frau. Sie dankt ihm für das Glück, an seiner Seite zu leben. Sie dankt ihm für das letzte Jahr,
    das schönste Jahr. Das härteste, innigste und das schönste.
    Dankbarkeit überwältigt ihn. Er schreibt,
    Du kennst meine Jugend und mein ganzes Leben. Nie hat meine unruhig suchende Seele eine Heimat gehabt. Aber das letzte Jahr, besonders die letzten Monate, erfüllten mich mit dem alles frühere übertönenden Empfinden: Meine Seele hat ihre Heimat gefunden. Für manchen mag es die Mutter sein oder sonst jemand, für mich bist Du es.
    Das Unglück hat ihm die Augen geöffnet. Ohne das Unglückhätte er dieses Glück nicht erfahren: endlich nach Hause gefunden zu haben,
    denn Glück ist kein Spiel, sondern eine Bewährung und ein Kampf.
    Er spürt die tiefe, machtvolle Verbundenheit mit seinen Kindern, seiner Frau. Wie werden sie die Zukunft meistern, wie werden sie aus dem Zusammenbruch hervorgehen? Aber Annedore ist klug und voll Kraft. Wenn sein Leben gerechtfertigt ist, dann dadurch, dass sie das ihre mit dem seinen verbunden hat. Sie steht ihm hell und klar vor Augen, leuchtender Mittelpunkt seiner Liebe und Sorge.
    Daneben geht mein eigenes Schicksal wie ein schwerer Traum.
    Über die Gräber vorwärts! Die Toten sind stärkere Heere als wir auf dem Lande, als wir auf dem Meere. Sie schreiten uns voran!
    Goebbels im Deutschlandsender wünscht sich zu Weihnachten die Toten lebendig.
    Im Lärm der Schlachten des Krieges gingen sie von uns. Beim Dröhnen der Glocken eines siegreichen Friedens werden sie zu uns zurückkehren. Mehr als allen Lebenden sind wir ihnen das Reich schuldig. Das ist die einzige Forderung, die sie uns hinterlassen haben. Sie gilt es zu erfüllen. Halten wir dafür unsere Hände und Herzen bereit, dann muss sich bald, wie der Dichter sagt, die Welt erneuern, wie ein junggeboren Kind.
    »Freya? Du darfst niemals werden wie Romai, bitte.«
    Der Weihnachtsabend ist vorüber. Asta und Freya haben die Kinder ins Bett gebracht.
    »Romai ist schrecklich. Sie ist wie aus Stein. Die Kinderflüstern, wenn sie hereinkommt, hast du es bemerkt? Mancher mag ja ihre Haltung bewundern, aber mich macht sie ganz krank, diese Haltung.«
    »Es ist eben alles noch sehr frisch. Edolf ist erst zwei Monate tot.«
    »Ja. Aber sie musste doch seit Monaten darauf eingestellt sein.«
    »Sie trägt eben schwer an ihrem Schmerz.«
    »Mag sein. Aber sie weint nicht. Sie ist tapfer, tüchtig, würdig, sie plagt sich, sie schuftet. Kann sie denn niemals traurig sein?«
    Was soll Freya sagen?
    »Wenn man die Bilder ihres lebensvollen Mannes ansieht, die dort oben unter dem Schlossdach überall hängen, kann man aber auch zornig werden, aus tiefster Seele zornig.«
    »Ja, Freya. Nur werde du nicht wie sie. Bitte.«
    Am zweiten Weihnachtsfeiertag versammeln sich die Kreisauer Kinder zum Singen im Schloss: Die vielen Reichweinchen, die Söhnchen, Tante Lenos fünf Enkel, die nach ihren toten Eltern Editha und Hans Carl von Hülsen die Hülsenfrüchte genannt werden, und Davy Moltkes große Töchter, die von Wernersdorf herübergekommen sind, um Pakete für Helmuth und für Püzze Siemens abzugeben. Freya hält Konrädchen auf dem Arm. Die schwangere Asta sitzt bei ihr, Tante Ete Trotha, Romai, Ulla Oldenbourg.
    O du fröhliche, o du selige,
    gnadenbringende Weihnachtszeit!
    Freya denkt an den furchtbaren Krieg im Westen. Sie denkt an den furchtbaren Krieg im Osten. Sie blickt in die Gesichter der anderen. Wie die Kinder sich verändern. Jedes Mal, wenn Freya nach Kreisau zurückkommt, sind sie ein winziges bisschenälter. Immer klarer werden ihre Züge, immer deutlicher die Gesichter, die sie haben werden.
    Nach der Gesangsstunde wandert Freya mit Asta und den Söhnchen vom Schloss wieder zum Berghaus zurück. Es ist ein klarer Abend, sehr still und kalt. Freya und das Marinkchen gehen

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