Wer wir sind
angenehm weibliche Gesellschaft sein kann.
»Und Sie verhandeln ja morgen den Fall Gerstenmaier, nicht wahr«, sagt Liesl Sündermann. »Ich bin nämlich mit seiner Schwester sehr eng befreundet. Hanna Schwarz, eine wirklich reizende Person. Sie ist natürlich in großer Sorge, und das bereitet mir echten Kummer. Ihr Bruder ist ja ein ganz weltferner Mann. Er interessiert sich genauso wenig für Politik wie Hanna und ich. Er geht völlig in seinen theologischen Reflexionen auf.«
»Nun«, sagt Freisler. »Ja. Aber immerhin war er für das Auswärtige Amt tätig.«
»Ja. Aber das hatte doch mit seiner Stellung im Kirchenamt zu tun. Nein wirklich, lieber Herr Dr. Freisler, der arme Herr Gerstenmaier hat bestimmt nichts Unrechtes getan. Ichweiß ja nicht, was man ihm vorwirft, aber er ist ganz sicher unschuldig. Allenfalls haben ihn böse Menschen verführt, und er in seiner weltfremden Art hat das gar nicht begriffen. Das kennen Sie doch aus Ihrer Berufspraxis. Sie haben doch bestimmt oft mit solchen Leuten zu tun. Mit wurzellosen Intellektuellen, die naivere, bodenständige Charaktere verderben und vergiften. Ach, und es täte mir so leid um die liebe Hanna. Aber zum Glück liegt die Sache in Ihren Händen. Und Sie kenne ich ja nun als einen gewissenhaften Menschen, der immer den Kern der Dinge sucht und sich nicht vom äußeren Anschein in die Irre führen lässt.«
Jetzt kommt es. Jetzt muss Freya festen Stand auf dem Boden finden, den sie miteinander geschaffen haben. Sie muss ihre Zehen in den Boden graben, sie muss sich entschlossen vorlehnen, dem Sturm entgegen. Sie wird die Tage der Gerichtsverhandlung allein verbringen, in der Wohnung der Trothas. Sie wird nur an Helmuth denken und Helmuth begleiten, sie wird wachen und beten, mit Gottes Hilfe in tiefer Ruhe. Sie hat ihm das geschrieben. Er soll sich auf sich selbst konzentrieren. Er soll jetzt nur noch dann an sie denken, wenn ihn Unruhe überkommt, und dann soll er wissen, dass er sie in tiefer Ruhe findet. Sie hat sich einen Korb Näh- und Stopfsachen bereitgestellt. Es ist leichter, ruhig und konzentriert zu bleiben, wenn die Hände von einer Tätigkeit beansprucht werden, die Herz und Geist nicht fordert.
Und hat sich Roland Freisler tatsächlich von Frau Sündermann betören lassen?
In düsteren Stunden hadert der Präsident des Volksgerichtshofs mit seinem Schicksal. Womöglich wird er es nie erleben, dass man ihm das volle Maß der ihm zustehenden Anerkennungentgegenbringt. Womöglich wird er niemals der Ehrungen, der Fülle des Respekts, der überragenden Geltung teilhaftig werden, die ihm von Rechts wegen gebühren: Denn von Rechts wegen müsste der Reichsjustizminister nicht Otto Georg Thierack heißen, sondern Roland Freisler.
Wenn es so etwas wie Gerechtigkeit auf dieser Welt gäbe, dann hätte die Karriere des Roland Freisler längst alles und alle in den Schatten stellen müssen. Freisler ist nicht nur fleißiger, er ist auch juristisch beschlagener, rhetorisch begabter, kurz: blendender als alle seine Kollegen. Das gestehen ihm sogar seine Feinde zu. Sie können gar nicht anders: In den acht Jahren, die er als Staatssekretär im Ministerium auf der Stelle getreten ist, hat Roland Freisler allmonatlich mindestens einen Aufsatz verfasst. Aber nicht ihn, sondern Carl Schmitt nennt man den Kronjuristen des Führers. Hans Frank ist Reichsrechtsführer und Präsident der Akademie für Deutsches Recht in München. Und Reichsjustizminister ist eben Freislers Vorgänger im Amt, Otto Georg Thierack.
Aber freilich, Thierack wird von Joseph Goebbels protegiert, und Carl Schmitt ist Görings Schützling, während Roland Freisler sich ganz allein emporgekämpft hat. Bei ihm hat niemand von oben gezogen und von unten geschoben, ihn hat man nicht von Stufe zu Stufe die Treppe hinaufbugsiert. Im Gegenteil, man hetzt gegen ihn.
Noch immer hetzt man gegen ihn. Und warum? Weil Roland Freisler in Sibirien um sein Überleben hat ringen müssen. Weil er im Weltkrieg in russische Kriegsgefangenschaft geraten und nach Auflösung der Lager nicht sofort, sondern erst 1920 nach Deutschland zurückgekehrt ist: Deswegen geifert man noch immer hinter seinem Rücken, Roland Freisler wäre ein verkappter Bolschewik. Es ist natürlich die Schuld der Katholiken. Roland Freisler ist schon 1925 der NSDAP beigetreten. Überdie Sibirienaffäre wäre längst Gras gewachsen wie über die Jugendsünden anderer auch, wenn nicht die Katholiken Roland Freislers Bruder Oswald
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