Wer wir sind
geborgen. Sein ganzes Leben hat Bedeutung erhalten, alle Nebensächlichkeiten haben sich gruppiert, alle scheinbaren Zufälligkeiten mit Sinn erfüllt. Was er für Bosheit, für Gemeinheit,für Schläge des Schicksals gehalten hat, waren in Wirklichkeit Mittel, ihn zu formen. Nun liegt die Landschaft seines Lebens geordnet und blühend vor seinen Augen: Granny und Daddy, Mami und Papi, die Geschwister, die Freunde, Kreisau und Berlin, Südafrika, England und im Zentrum von allem Freya, die ihn von jeder Sorge um sie oder die Söhnchen befreit und erlöst, so dass er sich ganz seiner Zukunft öffnen kann.
Freya hält Helmuths Hände. Helmuth ist gesammelt. Er hat seinen Fall aus den Händen gegeben. Er ist frei. Freya ist froh.
Katharina Leber kocht vor Zorn. Sie steht am Fenster in Hordorf. Und da kommt ihre Mutter die Straße herauf. Die Mutter ist ganz in Schwarz gekleidet. Klare Sache: Der Vater ist tot. Jetzt wird das Geheule wieder losgehen. Das Gejammer und Geflenne, ununterbrochen. Es geht schon los: Der kleine Bruder ist ans Fenster getreten und hat gesehen, was Katharina gesehen hat.
»Mein Papi!«
Buhuhuhuhuuuu!
Katharina stampft aus dem Zimmer. Sie ist stinksauer.
Und morgen soll nun der Prozess beginnen. Freya und Helmuth haben sich geeinigt, dass Freya nicht versuchen wird, Helmuth während der Verhandlung noch einmal zu sehen. Misslingt es, wären sie beide geschwächt, gelänge es, würde der Abschiedsblick sie umwerfen. Helmuth will lieber mit allem abgeschlossen haben, wenn er in den Saal und vor Freisler tritt.
Er will den Blick nach vorn richten können. Dort sollte eigentlich der Tod stehen. Der ist Helmuth jetzt aber manchmal nicht mehr sichtbar. Es irritiert ihn. Er hat so lange mit demHerrn gelebt, dass ihn sein Verschwinden ein wenig aus der Bahn wirft. Aber wer weiß? Letztlich wird sich alles daran entscheiden, wie tief Freisler in Helmuth eindringen kann.
Bleibt er an der Oberfläche, stirbt Helmuth für den Goerdeler-Mist. Dringt Freisler in Helmuths tiefste Tiefen vor, muss er Helmuth umbringen lassen, weil er dann erkennt, wer Helmuth Moltke ist: ein Christ und Todfeind des Nationalsozialismus. Immerhin stürbe man dann für das Richtige. Am wahrscheinlichsten ist es aber doch, dass Freisler zwar die Oberfläche durchstößt, jedoch nicht tiefer in die Wahrheit eindringt als bis in die mittlere Schicht. Dort würde offenbar, dass Helmuth mit Goerdeler nichts zu tun hatte und dass sein Defätismus in Wirklichkeit Teil seiner amtlichen Tätigkeit war. Dann könnte es sein, dass man am Leben bliebe.
Helmuth sitzt in seiner Zelle. Er blättert noch einmal in Freyas letzten Briefen, bevor er sie nachher Poelchau mitgeben wird. Es ergreift ihn stark, wie sehr das, was sie einander zuletzt geschrieben haben, fast bis in den Wortlaut hinein das Gleiche war. Aber es ist eben eine Tatsache, dass Freya und Helmuth ein gemeinsames Herz haben und einen gemeinsamen Blutkreislauf, dass nur sie beide zusammen ein ganzer Mensch sind, ein einziger Mensch, ein gemeinsamer Schöpfungsgedanke Gottes.
Soll er ihr das noch einmal schreiben?
Man muss ein bisschen aufpassen, dass sich diese Abschiednehmerei nicht abnutzt wie Abschiedsgrüße, wenn der Zug nicht abfahren will. Und wie es wohl sein wird, ein letztes Mal im Leben sein J. unter einen Brief an Freya zu setzen? Gleich wird er es wissen. Er schreibt.
Ich habe Dich lieb, und ich bin mit Dir glücklich, und dabei bleibt es. J.
Roland Freisler hat Blumen besorgt. Er ist heute Abend bei den Sündermanns eingeladen. Sündermann ist der oberste Pressechef des Führers. Aber dass Freisler dem Abend mit froher Erwartung entgegenblickt, liegt an Sündermanns Frau. Die junge Liesl Sündermann ist ganz besonders ansprechend, eine herzliche, warme Österreicherin.
»Aber lieber Herr Dr. Freisler, wie schön, dass Sie da sind.«
Diese Haarfülle, dieses Lächeln, diese Lebendigkeit. Ganz rein und frisch, das junge Kind. Und wie man geschätzt, wie man achtungsvoll umsorgt wird. Das Herz geht einem auf, vor allem, wenn man es den ganzen Tag lang mit Verrat und Heimtücke zu tun hat, mit gänzlich verbogenen Charakteren.
»Und was für wundervolle Blumen. Fast wie im Film. Wo haben Sie die nur wieder her? Kommen Sie, kommen Sie, setzen Sie sich. Ich habe wieder das Gulasch gemacht, das Ihnen letzthin so geschmeckt hat.«
Das Gulasch ist auch diesmal vorzüglich. Sündermann hat einen schönen Burgunder geöffnet. Liesl plaudert, sie lacht. Wie
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