Wer wir sind
erinnert hat, wird ihm ja nun minütlich klarer, er wird immer zentraler.
Herr Graf, eines haben das Christentum und der Nationalsozialismus gemeinsam, und nur dies eine: Wir verlangen den ganzen Menschen.
Das hat Freisler gesagt.
Er hat es so gesagt.
Helmuth sieht nun, wie wundervoll er geführt worden ist. Ihm wird strahlend deutlich, welch unerhörte Mühe Gott auf ihn verwandt hat: Der Herr selbst hat ihn geläutert, so dass Helmuth am Ende vor Freisler stand nicht mehr als Preuße, als Protestant oder Adliger, sondern allein als ein Christ.
Sein Auftrag auf dieser Welt ist damit erfüllt. Nun müssen die Überlebenden eine Legende aus ihm machen. Sie müssenseine Geschichte erzählen, Helmuth Moltkes Geschichte, und er steht in ihrem Zentrum, nicht weil er es so wollte, sondern weil Gott es so gefügt hat.
Freilich muss Freya sich auch jetzt noch weiter um Helmuths Freilassung bemühen. Es könnte immerhin sein, dass Gott einen zweiten Auftrag für Helmuth Moltke bereithält. Es könnte auch sein, dass der Feind plant, Helmuth zu prügeln und ihm alle Knochen zu brechen, bevor man ihn hängt. Aber wenn Freya an offizieller Stelle klarstellt, dass Helmuth Moltke auch jetzt nicht vergessen ist, wird sich das vielleicht vermeiden lassen.
Freya darf Helmuth also nicht verloren geben. Gott kann ihn auch jetzt noch vor dem Tode retten, genauso sicher, wie er es letzte Woche vermocht hat oder letztes Jahr. Aber Helmuth glaubt nicht daran. Er weiß nicht einmal, ob er es noch wünscht. Er weiß nicht, ob eine Rückkehr gelänge. Er hat eine Schwelle überschritten. Etwas hat ihn berührt. Er ist geweiht, todgeweiht. Wenn er nun spricht, spricht er mit der Autorität, die ihm durch diese Berührung verliehen ist.
Es ist nicht einmal so, dass mir verheißen wäre, ich würde Dich nicht verlieren; nein, es ist viel mehr: ich weiß es.
Schritte auf dem Gang. Das Geklirr von Schlüsseln. Die Schritte verhalten vor seiner Zellentür. Es ist so weit. Helmuth Moltke wird nun noch einmal vor Freisler treten, um sein Urteil zu empfangen. Die Tür öffnet sich. Helmuth steht auf. Er folgt dem Wachtmeister auf den Gang. In der Tür wendet er sich noch einmal um. Er schickt einen Abschiedsgruß in seine Zelle. Hierher wird er nicht wieder zurückkehren. Möglicherweise ermordet man ihn noch nicht heute, aber sicher wird man ihn nach dem Urteil nach Plötzensee schaffen.Heute wird also das Urteil verkündet. Freya ist gleich morgens von Lichterfelde in die Afrikanische Straße gefahren. Sie kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Hinter ihr liegen die anstrengendsten Tage ihres ganzen Lebens.
Ihre Aufgabe war es, an ihn zu denken, und sie hat an ihn gedacht. Ihre Aufgabe war es, ruhig zu bleiben, und sie ist ruhig geblieben. Sie hatte ihm ihre Ruhe versprochen, und sie hat das Versprechen gehalten. Jetzt ist es damit vorbei. Sie ist völlig kraftlos. Sie liegt auf dem Sofa der Poelchaus und kann nur weinen. Sie soll ihn loslassen, sich Schritt für Schritt von ihm lösen. Kann man sich von seiner Haut lösen, seinen Augen, seinem Herzen? Freyas Beine tragen sie nicht mehr, ihre Arme lassen sich nicht mehr heben. Freya löst sich nicht von ihm, sie löst sich auf, sie verflüssigt sich, alle ihre Muskeln sind zu Wasser geworden. Aber sie darf ihn jetzt nicht allein lassen. Sie muss ihn begleiten! Sie kann nicht. Sie muss bei ihm sein, ganz und nur bei ihm, an diesem Tag, der vielleicht der letzte Tag seines Lebens ist, und sie kann nicht bei ihm sein. Freya schreit auf vor Schmerz, sie krümmt sich. Aber es nützt nichts. Sie kann sich in keine leuchtenden Höhen mehr aufschwingen, um ihm dort zu begegnen, sie kann die hellen goldenen Gassen nicht mehr sehen, auf denen sie mit ihm wandelt. Sie ist allein in der Finsternis, sie sucht ihn und sucht ihn und findet ihn nicht, er ist ihr für immer verloren.
Sie hat ihn gestern schon verloren. Schon gestern suchten ihn ihre Gedanken und fanden ihn nicht, sie schweiften ab, fielen in sich zusammen, und als sie ihm den Abschiedsbrief schreiben wollte, den allerletzten Brief an ihn, wusste sie gar nicht mehr, an wen sie schrieb. Sie hörte kein Echo, keine Antwort, nur Abwesenheit. Sie hat dennoch geschrieben: einen Brief an die Leere, an die sausende Stille. Und gerade hat sie seine Antwort erhalten,
Mein Herz, eben kommt Dein sehr lieber Brief. Der erste Brief, mein Herz, in dem Du meine Stimmung und meine Lage nicht begriffen hast.
So also ist es. Sie hat es falsch gemacht.
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