Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
Vom Netzwerk:
Sie hat ihn allein gelassen, sie ist nicht bis zuletzt an seiner Seite gegangen. Sie wollte ihn begleiten bis an den äußersten Rand des Grabes und darüber hinaus, und nun steht sie am äußersten Rand ihrer Kräfte, ein armseliger Erdklumpen, ein Lehmkloß ohne Glauben und Hoffnung, körperlich, seelisch, geistig zerschlagen.
    Und er lebt. Er lebt. Sie haben ihn ihr noch nicht genommen. Seine lieben Augen sehen noch immer das Sonnenlicht. Freya schafft es nicht einmal bis zur Toilette, ohne dass Dorothee sie stützt.
    Dorothee hält Freya fest. Sie hält sie im Arm. Sie nimmt sie in beide Arme, sie redet ihr sanft zu.
    »Nicht ringen. Nicht wollen. Nicht kämpfen. Nachgeben.«
    Und dann, auf dem Sofa liegend, zugedeckt von Dorothee, die einen Moment hinausgegangen ist, wird es Freya klar.
    Sie ist gar nicht nötig. Es ist gar nichts verlangt. Es ist alles geregelt, auch ohne Freyas Mitwirkung. Helmuth lebt, und irgendwann lebt er nicht mehr, Freya lebt, und irgendwann nicht mehr. Es ist nicht so wichtig. Das, was wichtig ist, bleibt wichtig auch ohne sie. Es liegt nicht bei Freya, darüber zu befinden, es liegt nicht bei ihr, Wichtigkeit zu verleihen. Freya muss einfach nur ihr Leben leben. Mehr wird nicht verlangt. Sie muss nicht ringen, sie muss nicht kämpfen, sie muss noch nicht einmal beten. Sie muss nur ihr Leben leben, still, selbstverständlich und vollkommen alltäglich, ihr eigenes Leben und seines, das sie lebt mit ihrer großen Liebe zu ihm, wo immer er ist und wo immer sie ist, an seiner Seite, vereint mit ihm. Freya sieht das nun klar. Ihr Brief gestern ist ins Leeregegangen, weil er aus der Leere kam: weil sie eine andere sein wollte als die, die sie ist.
    Freya ist eine Kreatur dieser Welt. Sie ist für das Leben geeignet, sie ist für das Leben gemacht. So liebt Helmuth sie, so wollte Gott sie, so und nicht anders soll sie sich erfüllen. Das heißt, sie ist Gottes Kind. Mitten im Trubel des Lebens kann sie diese Gewissheit haben: Gott wird sich ihrer immer annehmen, da sie nun einmal zu seiner Schöpfung gehört.
    Das ist alles. Sie muss darüber nicht nachdenken. Sie kann sich getrost wiegen lassen. Dorothee hält Freya fest im Arm.
    »Nicht ringen. Nicht wollen. Vertrauen. Dann fängt etwas an. Es fängt an, nicht du fängst es an. Das sind immer die guten Dinge.«
    Freya weint in Dorothees Arm. Sie wird nun noch einmal einen Brief an Helmuth schreiben. Es wird kein Abschiedsbrief sein: Freya hat mehr als genug letzte und allerletzte Briefe geschrieben. Von nun an wird sie nicht mehr mit ihren Gedanken an Helmuth hängen, sondern sie wird ihn mit ihrem Leben begleiten.
    Das ist nicht schwer. Das ist leicht. So muss es sein: leicht, federleicht, gewichtlos, nicht gewaltig. Auch wenn Freya einmal selbst stirbt, wird es leicht sein. Das weiß Freya nun. Menschen kommen von irgendwoher und gehen nach irgendwohin, und das tun sie in dieser Welt und jenseits von ihr, und der Schritt vom Leben zum Tod ist klein. Die Schwelle ist winzig.
    Das sieht Freya nun, stark und klar: Es ist gar keine Schwelle vorhanden. Der große Strom reißt seine Fluten durch beide Bereiche. Freya weint in Dorothees Arm. Dann versiegt das Weinen allmählich. Es dämmert. Es wird Abend: der Abend des 11. Januar 1945. Tag wird sich nun an Tag reihen, für Helmuth und für Freya, bis sie wieder miteinander vereint sind, auf dieser Welt oder in der anderen.
    Dann geht die Tür. Harald Poelchau ist nach Hause gekommen. Helmuth Moltke ist zum Tode verurteilt. Ebenso Alfred Delp. Eugen Gerstenmaier hat sieben Jahre Zuchthaus erhalten. Einen Moment später klingelt es. Freya löst sich aus Dorothees Arm. Sie steht auf, geht zur Tür und öffnet. Sie tritt hinaus auf den Flur und beugt sich über das Geländer. Brigitte Gerstenmaier stürmt die Treppen hinauf. Freya ruft durchs Treppenhaus.
    »Sieben Jahre, Brigittchen!«
    Brigitte Gerstenmaier taumelt. Sie greift nach dem Geländer, dann sinkt sie auf die Stufe nieder, wo sie steht. Freya läuft die Treppen hinunter. Sie hilft Brigitte auf. Brigitte weint. Später am Abend fährt sie nach Hause. In dieser Nacht bleibt Freya bei den Poelchaus.
    Helmuth Moltke ist erstaunt. Man hat ihn wiederum nach Tegel zurückgebracht, in seine alte Zelle. Nun, wahrscheinlich geht es morgen nach Plötzensee. Ihn beschäftigt etwas gänzlich anderes: Warum findet sich in der Urteilsbegründung kein einziges Wort über die wahre Debatte zwischen Freisler und ihm?
    Zuerst war Helmuth erschüttert,

Weitere Kostenlose Bücher