Wer wir sind
unter diesen Umständen nicht länger mal hier, mal da schlafen.
So leben sie nun alle zusammen in der Afrikanischen Straße. Gertie putzt Gemüse. Freya kocht Haralds und Helmuths Unterhosen in dem grüngrau emaillierten Topf. Sie schrubbt Haralds und Helmuths Hemdkrägen mit der Rumpel. Dann macht sie Hausaufgaben mit dem kleinen Harald, der zappelig und wenig umgänglich ist: Ihn verstimmen diese Eindringlinge. Immer belagern Fremde sein Zuhause: Freya, diese Gertie, angebliche Freunde vom Lande, die er nicht kennt und die nach einer Weile wieder irgendwohin verschwinden.
Obwohl das lange nicht mehr vorgekommen ist. Freunde vom Lande scheint es nicht mehr zu geben.
Helmuth in Tegel sucht derweilen nach Zeichen. Das ist nicht leicht. Vielleicht interpretiert er die Zeichen falsch. Wenn er diese Woche noch überlebt, dann ist es ein gutes Zeichen. Oder ein schlechtes. Oder keins. Aber wenn er ein Zeichen bekommen hat, muss er es dann nicht glauben? Er muss sich nun immer wieder ermahnen, nicht an der Rettung seines Lebens irrezuwerden. Er muss fest an diese Rettung glauben. Sein Verstand sagt ihm nämlich, dass er getötet wird. Alleshat sich nun noch einmal gedreht. Alles ist wie umgekrempelt. Vielleicht hat ihn der Wal noch gar nicht ausgespien. Vielleicht hat er ihn gerade erst geschluckt. Diese ständige Unsicherheit, diese Grübeleien lasten schwer auf Helmuth.
Und Freya war noch einmal bei Gestapo-Müller. Der General hat unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass ihm Helmuth zuwider ist. Noch vor dem Prozess, gleich nach Freyas erstem Besuch, hat Müller eine ganze Stunde mit Moltke verbracht. Danach stand es fest: Hochverräter wie Moltke darf man nicht aufsparen.
Das war ja der Fehler von 1918. Kaum war der Krieg zu Ende, öffneten sich die Zuchthäuser, und die strömten alle wieder ans Tageslicht: Das hat Müller zu Freya gesagt.
Sie rechnen also nun mit einer Niederlage wie 1918, mit dem Untergang ihres Reichs. Freya schreibt Helmuth.
Sie reden jetzt, wenn sie von Dir und den Freunden reden, vom Kreisauer Kreis.
Müller ist also sein geschworener Feind. Helmuth Moltke ist erleichtert. Der große Druck weicht, und alles gerät wieder ins Lot: Helmuth wird nun doch hingerichtet. Er fühlt sich jetzt frei und bereit. Sicher, von acht Uhr früh bis abends um sechs muss er nun jede Minute damit rechnen, dass man ihn abholt. Aber draußen wäre er inzwischen eingezogen und als Neuling an der Front wahrscheinlich schon tot. Und wofür wäre er dann gestorben? So wie es ist, ist es schon besser, für ihn und für Freya.
Er muss nun nur überlegen, womit er in Zukunft seine Zeit füllen soll. Außer dem Tod liegt nun ja nichts mehr vor ihm, und das ist ein wenig ungenügend. Er muss einmal mit Harald besprechen, ob er nicht anfangen sollte, Russisch zu lernen. ImMoment liest er mit großer Freude ein Buch von Lilje über die Offenbarung, das ihm Harald Poelchau mitgebracht hat.
Wenn Freya morgens erwacht, weiß sie nie, ob Helmuth noch am Leben ist. Aber wer weiß das schon vom anderen, in diesem Krieg, in dieser brennenden Stadt Berlin, die bei Tag und Nacht bombardiert wird? Jetzt wird klar, wie sehr sie selbst in den Wochen vor dem Prozess noch in der Zukunft gelebt haben, in der Zeit, in Plänen, Hoffnungen, Zielen. Aber auch jetzt, im Angesicht des Todes, verweilen ihre Gespräche nicht in der Zeitlosigkeit. Alles ist an das Jetzt gebunden. Jeder Tag ist ein Tag.
Und der Fleischer hat wieder abgesagt. Das Schwein hat eine weitere Galgenfrist bekommen. Aber Freya muss dennoch endlich einmal wieder nach Kreisau fahren. Es ist Freitag, der 19. Januar. Heute vor einem Jahr hat man Helmuth verhaftet. Um neun geht Freyas Zug vom Schlesischen Bahnhof.
Und kann man Helmuth nicht doch noch befreien? Warum brauchen die Alliierten denn nur so lang? Warum sputen sie sich nicht, die Russen von Osten, die Briten und die Amerikaner von Westen? Aber die Russen sind ja schon da.
Am Montag, dem 22. Januar, will Freya von Kreisau nach Berlin zurückkehren. Zu diesem Zeitpunkt haben die Russen die schlesische Grenze bereits überschritten. Breslau ist zur Festung erklärt. Die Evakuierung der Kreise rechts der Oder ist angeordnet.
Helmuth hat es am Sonntag in der Zeitung gelesen. Er ist voll Sorge. Namslau ist von den Russen genommen. Wie weit ist das von Kreisau, hundert Kilometer? Was für eine entsetzliche Reise Freya haben wird. Und was soll nun geschehen? Wenn es ihr gelingt, sich nach Berlin
Weitere Kostenlose Bücher